Rumms! Scheppernd fliegt die Haustür ins Schloss, und – Klatsch! – kurz darauf landet der Schulranzen achtlos fortgeschleudert unter der Garderobe. Es ist kurz nach 3* und Lena ist aus der Schule zurück. „Nanu, Lena, was ist denn mit dir los?“, tönt Mutters Stimme aus der Küche.
„Ach, nichts, ich bin nur wieder total müde… und am Mittwoch haben wir schon wieder einen Mathetest. Noch mehr zu lernen. Dabei würde ich heute doch gerne mit Elli spielen…“
Die Mutter kommt mit einem Teller voll frisch aufgeschnittenem Gemüse aus der Küche. „Nun setz dich doch erstmal, atme durch und nimm einen Imbiss. Hinterher gibt es auch dein feines Vitamin-Gummibärchen. Und den Mathetest schaffen wir dann auch…“
Lena bekommt von ihrer Mutter Nahrungsergänzungsmittel. Laut zwei grossen deutschen Studien, DONALD und EsKiMo, könnte jedes zehnte Kind eine solche Szene kennen. Denn diese Zahl haben die Wissenschafttler ermittelt: Jedes zehnte Kind nimmt Nahrungsergänzungsmittel ein. In Deutschland. Und warum nicht auch in der Schweiz?
Der Markt für Vitamintabletten und eine wahre Vielfalt anderer Nahrungsergänzungsmittel erscheint hierzulande nämlich ähnlich gewaltig wie drüben im „grossen Kanton“. Da fehlen auch spezielle Produkte für den Nachwuchs in „kindgerecht“ bunter Erscheinung natürlich nicht. Wie zum Beispiel Lenas Vitamine in Gummibärchen-Form.
Aber: Sind Nahrungsergänzungsmittel für Kinder wirklich notwendig?
Was können Nahrungsergänzungsmittel eigentlich?
Eine vollständige Liste von Nährstoffen in Nahrungsergänzungsmitteln für Kinder wäre überaus lang, weshalb ich einige gängige Beispiele herausgesucht habe.
Vitamine
Vitamine sind (relativ) kleine organische Moleküle, die der menschliche Körper nicht selbst herstellen kann, aber für seine Funktion unbedingt braucht. Deshalb müssen wir diese Stoffe mit der Nahrung aufnehmen.
Etwas aus dem Rahmen fällt dabei das sogenannte Vitamin D (exakt: D3), auf biochemisch „Cholecalciferol“. Das kann der Körper zwar selbst herstellen, benötigt dazu aber Energie aus Sonnenlicht, genauer aus UV-B-Strahlen. Da diese Energie – wie die anderen Vitamine – von aussen kommen muss, hat auch das Cholecalciferol einen Vitamin-Namen erhalten.
Genaueres zu den Aufgaben der einzelnen Vitamine erfahrt ihr im Artikel über die 13 Stoffe für ein Leben.
Für Kinder hat Vitamin D eine besondere Bedeutung. Denn daraus stellt der Körper ein Hormon her, welches den Einbau von Calcium in die Knochensubstanz reguliert. Und das ist ein unheimlich wichtiger Vorgang beim Wachstum. Vitamin-D-Mangel kann bei Kindern zu Knochenwachstumsstörungen führen, die allgemein als Rachitis bekannt sind.
DHA (Docosahexaensäure)
DHA ist eine Carbonsäure, die zu den sogenannten Omega-3-Fettsäuren zählt und ein wichtiger Baustein für die Aussenhaut (Membran) von Zellen – insbesondere Nervenzellen – ist. Deshalb wird DHA als wichtig für die Entwicklung von Gehirn und Netzhaut der Augen angesehen. Natürlich kommt diese Fettsäure in fettem Seefisch (z.B. Lachs, Hering) und in Muttermilch (nicht in Kuhmilch!) vor.
Jod
Ionen des Elements Jod (auf chemisch „Iod“) sind unverzichtbares Baumaterial für Schilddrüsenhormone, die wiederum den Energiehaushalt des Körpers und das Wachstum regulieren. Bei Jodmangel kann die Schilddrüse nicht genügend Hormone herstellen, was in früher Kindheit zu Entwicklungsstörungen führen kann (im Extremfall zum „Kretinismus“). Genaueres dazu erfahrt ihr im Artikel zum Jod.
Natürlich kommt Jod in für den Menschen brauchbaren Verbindungen in Seefisch und Meeresfrüchten vor. Zudem wird es unserem Speisesalz zugesetzt und gelangt über Tierfutter in Milch und Eier.
Calcium
Oder Kalzium, wie die neue deutsche Rechtschreibung es verlangt. Ein weiteres chemisches Element, dessen Ionen für den menschlichen Körper von Interesse sind. Calcium-Ionen werden vor allem für den Aufbau der Knochensubstanz, welcher wiederum vom Hormon aus Vitamin D reguliert wird, benötigt. Ohne Calcium nützt also die beste Vitamin-D-Versorgung nichts, so wie Calcium ohne Vitamin D wertlos ist. Calcium ist für ein gesundes Wachstum also unverzichtbar, weshalb Kinder ein Vielfaches mehr an Calcium aus der Nahrung aufnehmen können als Erwachsene.
Natürlich kommt Calcium vor allem in Samen und Milchprodukte (vor allem Käse!), aber auch in Blattgemüse und Feigen vor.
Zink
Ionen des chemischen Elements und Metalls Zink sind Bestandteil von einer Vielzahl von Enzymen, die verschiedene Aufgaben im Stoffwechsel übernehmen. Ausserdem reguliert es das Immunsystem – und es gibt Hinweise darauf, dass Zink die geistige Leistungsfähigkeit und Gesundheit fördere. Aber eben: Hinweise. Da ist noch ziemlich viel Forschungsarbeit zu tun. Zumal Zink zu den Stoffen gehört, die in zu grosser Menge schnell gesundheitsschädlich werden.
Zink kommt natürlich vor allem in rotem Fleisch, Hülsenfrüchten, Käse, Pilzen, Meeresfrüchten, Baumnüssen (Walnüssen) und anderen Samen vor.
Eisen
Eisen-Ionen sind zentraler Bestandteil des roten Blutfarbstoffs und werden somit für den Sauerstofftransport benötigt. Ausserdem kommen sie in verschiedenen Enzymen zum Einsatz. Genaueres erfahrt ihr im Artikel zum Eisen in der Ernährung.
Natürlich kommt für den Menschen nutzbares Eisen vor allem in Fleisch vor. Das darin auftretende Häm-Eisen kann der menschliche Körper um Vieles leichter aufnehmen als das in Pflanzen enthaltene Eisen.
Magnesium
Die Ionen des Magnesiums sind nicht nur Bestandteil von einer Vielzahl von Enzymen, sondern tragen auch entscheidend zur Funktion von Muskel- und Nervenzellen bei. So zeigt sich ein Magnesiummangel durch Ruhelosigkeit, Nervosität, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, Müdigkeit bis hin zu Herzrhythmusstörungen oder Muskelkrämpfen.
Natürlich kommt Magnesium in vielen Lebensmitteln vor, z.B. in Vollkornprodukten, Mineralwasser, hartem Leitungswasser, Samen, Gemüse und Milchprodukten vor.
Aber sind unsere Kinder ohne Nahrungsergänzungsmittel so schlecht damit versorgt?
Nein! In den Studien DONALD und EsKiMo wurde nicht nur untersucht, wie viele Kinder Nahrungsergänzungsmittel einnehmen, sondern auch, wie gut sie unabhängig davon mit Nährstoffen versorgt sind. Das Ergebnis: Die Versorgung der Kinder in Deutschland ist auch ohne Nahrungsergänzungsmittel allgemein gut. Das wird für die Schweiz – ein angrenzendes Industrieland mit vergleichbar vielfältigem Nahrungsangebot – genauso gelten.
Es gibt dabei einige wenige Ausnahmen wie Vitamin D und Folsäure. In den Bergregionen der Schweiz war zudem lange die Jodversorgung schwierig. Heute ist jedoch auch die durch jodiertes Speisesalz gewährleistet.
Zudem sagt das Niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (LAVES):
Der Nutzen des Verzehrs von mehr pflanzlichen Lebensmitteln wie Obst, Gemüse, Vollkornprodukten und Kartoffeln und weniger Süßigkeiten und Limonade in der Ernährung kombiniert mit mehr Aktivitäten im Freien ist ausreichend belegt für die Entwicklung von Körper und Gehirn bei Kindern.
Und auf die gezielte Zufuhr der wenigen Nährstoffe, für die wirklich Bedarf bestehen mag, sind viele Nahrungsergänzungsmittel für Kinder gar nicht ausgelegt: Von vier wahllos herausgegriffenen Vitamin-Produkten speziell für Kinder enthält nur eines Folsäure, und nur zwei Vitamin D.
Und selbst wenn diese „besonders wichtigen“ Vitamine darin wären, sagt doch das LAVES weiter:
Für Nahrungsergänzungsmittel fehlt dieser Nachweis.
Gemeint ist ein Beleg eines Nutzens von Nahrungsergänzungsmitteln für die Entwicklung von Kindern.
Ausnahmen: Erkrankungen, Erbkrankheiten, besondere Ernährungsweisen
Anders mag die Versorgungslage jedoch bei bestimmten Vorerkrankungen, genetisch bedingten Stoffwechseldefekten oder Ernährungs-/Lebensweisen wie einer veganen Ernährung aussehen. Dann kann der Kinderarzt eine allfällige Mangelversorgung in einer Blutuntersuchung (und nur so!) feststellen und bei Bedarf ganz gezielt Präparate verordnen, die das Benötigte (und nur das!*) enthalten.
*Immer mal wieder geistern Geräte für „unblutige“ Messungen a la „Bioscan“ durch das Netz und Gesundheitseinrichtungen sogar bis hin zu Apotheken und Arztpraxen. Aber wenn die wirklich funktionieren würden, wären aufwändige Bluttests längst überholt. So wundert es nicht, dass sie es nicht tun, wie Kinderarzt Professor Dorsch und die Redaktion des ARD wiederholt festgestellt haben.
**Meine Ansicht als Chemikerin zu Eingriffen in die Chemie unseres Körpers ist: So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Das gilt nicht nur für die Menge, sondern auch für die Auswahl eingesetzter Stoffe. Und da alles – von jeder Herkunft – gleichermassen Chemie ist, ebenso für Naturstoffe wie für Laborprodukte.
Können Nahrungsergänzungsmittel für Kinder gefährlich sein?
Nahrungsergänzungsmittel für Kinder sind in den allermeisten Fällen überflüssig. Aber können sie auch gefährlich werden? Vitamine sind doch Naturstoffe und darüber hinaus unverzichtbar für die Gesundheit…
Chemie ist überall und oft zu viel
Bei dieser Frage sitzen viele schnell einmal mehr der unsinnigen Einteilung in „natürlich“ und „synthetisch“ auf. Dabei ist die Chemie immer dieselbe, ob sie nun in der Natur von Lebewesen oder im Labor hergestellt wird. Somit sind auch die Bestandteile von Nahrungsergänzungsmitteln auf die gleiche Weise zu betrachten wie natürliche, synthetische oder teilsynthetische Medikamente oder Lebensmittelbestandteile und -zusätze. Das tun Verbraucherzentralen auch:
Das Ärzteblatt schreibt: Zwischen Dezember 2017 und Januar 2018 haben Verbraucherzentralen in Deutschland 26 Nahrungsergänzungsmittel für Kinder untersucht: Bei 85% war mindestens ein „Wirkstoff“ für 4- bis 7-Jährige über dem Referenzwert der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) dosiert. Zusätzlich lagen 50% der Präparate über den Referenzwerten des Deutschen Bundesamtes für Risikobewertung (BfR) für 15-Jährige, 20% an deren Grenzen.
Insbesondere die fettlöslichen Vitamine wie A und D, die der Körper nicht einfach wieder ausscheiden kann, reichern sich an und können zu Gesundheitsproblemen, in Extremfällen zu regelrechten Vergiftungen führen. Auch verschiedene sogenannte Spurenelemente, wie das oben erwähnte Zink, haben in grösseren Mengen gesundheitsschädliche Wirkungen.
Verharmlosung bzw. Irreführung durch Darreichung als Naschereien
Selbst wenn die angebotene Dosis bzw. Dosierungsanleitung im Rahmen der Empfehlungen liegt, lädt die Aufmachung verschiedener Präparate in Gummibärchenform oder mit Comic-Motiven auf der Verpackung besonders jüngere Kinder regelrecht zum „Naschen“ ein. Ein wenig Unachtsamkeit oder Nachgiebigkeit gegenüber Quengeln und die Gefahr der Überdosierung ist gross.
Und die natürlichen Extrakte von exotischen „Superpflanzen“?
Die bisherigen Abschnitte drehen sich vornehmlich um die herkömmlichen „Vitaminpräparate“ mit meist wohlbekannter Nährstoffsammlung. Aber auf dem riesigen Nahrungsergänzungsmittel-Markt tauchen immer wieder Präparate mit „neuen“, oft exotischen Pflanzen (und Tieren?) mit angeblichen „Superkräften“ – oft aus der „Volksheilkunde“ exotischer Völker – auf.
Hier gilt um so mehr, was ich oben schrieb: Die Chemie ist immer die gleiche, egal woher sie kommt. Und gerade Pflanzen verstehen sich darauf, einen ganzen Cocktail an wirksamen Chemikalien zu produzieren – um Bestäuber/Saatgutverteiler anzulocken oder sich zu verteidigen…
Wissenschaftlich oder Schall und Rauch?
Dementsprechend aufwändig ist es, belastbare wissenschaftliche Studien zu Wirksamkeit und Nebenwirkungen solcher Präparate zu erstellen. So wundert es nicht, dass es belastbare Studien oftmals gar nicht gibt – obwohl in der Werbung für viele Mittel anderes behauptet wird. Denn vieles, was als „wissenschaftlich“ beworben wird, ist am Ende gar nicht aussagekräftig.
Aber wie könnt ihr feststellen, ob die Werbung nun Schall und Rauch ist oder wirklich aussagekräftige Forschung hinter einem Produkt steckt? Die Website „Klartext Nahrungsergänzung“ der Verbraucherzentrale in Deutschland gibt euch alles an die Hand, was ihr wissen müsst, um eine aussagekräftige Studie zu erkennen.
Neuartige Lebensmittel und die umgangene Zulassungspflicht
Dazu kommt: Viele „neuartige“ Präparate – im Klartext solche, die vor dem 15.5.1997 in der EU und der Schweiz noch nicht in nennenswerten Mengen verzehrt worden sind, gelten als „neuartige Lebensmittel“ und dürfen nur nach Zulassung durch die Europäische Kommission bzw. das Schweizerische Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) in den Verkehr gebracht werden.
Nun hat die ARD aber erst kürzlich vorgeführt, dass die behördliche Kontrolle bei der Anmeldung von neuen Nahrungsergänzungsmitteln, die unter anderem auch das sicherstellen soll, in Deutschland nicht so funktioniert, wie sie sollte.
Die Folge: Im „Grossen Kanton“ sind unter Umständen auch Nahrungsergänzungsmittel mit „neuartigen Lebensmitteln“ ohne Zulassung erhältlich. Sei es nun im Laden um die Ecke, über Multi-Level-Marketing oder über mehr oder weniger zwielichtige Webshops.
Wenn letztere ihre Produkte zudem aus dem fernen Osten oder anderen exotischen Gegenden beziehen, besteht zudem die Gefahr von Verunreinigungen mit Stoffen, die da gar nicht hineingehören. Denn die Herstellungsstandards sind in vielen dieser Schwellenländer längst nicht so hoch wie hier in Mitteleuropa.
Das alles zusammen sind genügend Gründe, neuartigen pflanzlichen (und tierischen) „Super“-Produkten besonders skeptisch zu begegnen und sich in Ruhe und genau darüber kundig zu machen, bevor ihr sie kauft oder anwendet.
Fazit
Studien zeigen: Kinder sind in Mitteleuropa gut mit Nährstoffen (abzüglich weniger Ausnahmen) versorgt.
Studien zeigen hingegen nicht, dass Nahrungsergänzungsmittel die Entwicklung von Kindern verbessern würden.
Daraus folgt: Nahrungsergänzungsmittel für Kinder sind in der Regel überflüssig. Und in Extremfällen können sie sogar ungesund sein. Besonders bei exotischen Produkten und „neuartigen Lebensmitteln“ rate ich dahingehend zu Vorsicht.
Wenn tatsächlich Verdacht auf einen Nährstoffmangel besteht, verschafft der Kinderarzt mit einer Blutuntersuchung Klarheit und kann bei Bedarf etwas Gezieltes verordnen, um den Mangel zu beheben.
Letztlich könnt ihr aber auch ohne Arzt einiges für die Nährstoffversorgung und Gesundheit eurer Kinder tun. Sorgt für:
- eine ausgewogene Ernährung
- genügend Gelegenheit, draussen aktiv zu werden
- das Aufspüren und Beseitigen bzw. Minimieren von Ursachen für Alltagsstress!
Letzteres ist in meinen Augen für die gesunde Entwicklung von Kindern viel massgeblicher – und effektiver – als der Versuch, Alltagsstress und Leistungsdruck mit Nahrungsergänzungsmitteln auszugleichen.