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Alias-Effekt: Keinsteins Kiste erklärts!

Der Volksmund pflegt zu sagen: „Physik ist, wo es knallt – Chemie ist, wo es stinkt. Ich pflege zu sagen: „Physik ist, wo man spielt (und da sich Physik und Chemie nicht immer trennen lassen, gilt das auch irgendwie für letztere). Denn die wohl spannendsten Spielzeuge sind mit erstaunlichen physikalischen Phänomenen behaftet, welchen sich kleine und grosse Spielende allzu häufig gar nicht bewusst sind.

Begeistert gespielt wird auch bei Emmygunde und ihrem Spatzeküken, und dabei höchst aufmerksam beobachtet – und die Beobachtungen fleissig auf Fotos und Film gebannt. Eine solche Filmaufnahme offenbarte neulich, als das Band – pardon, die Datei – bei seiner Inaugenscheinnahme etwas erstaunliches.

„Das habe ich gar nicht gesehen – nur in dem Film kann man es erkennen!“, mailte Emmygunde mir. Und sie meinte die funkelnden Lichterkreisel, die sie beim Kreiseln im Dunkeln gefilmt hatte:

Ein (Elektro-)Mechanismus sorgt dafür, dass die bei der Drehbewegung auftretenden Kräfte Lampen in den Kreiseln zum Leuchten bringen. Und da diese Lampen fest eingebaut sind, kreiseln sie fleissig mit. Wer das mit dem blossen Auge beobachtet, wird eine Lichtsäule über dem rotierenden (sich drehenden) Kreisel sehen.

Was man mit dem blossen Auge nicht sieht, sind die geisterhaften bewegten Spiralen, welche auf der Filmaufnahme über den Kreiseln erscheinen.

Wie kann etwas auf einem Film zu sehen sein, das in Wirklichkeit gar nicht da ist? Ist das einer dieser übersinnlichen Fälle für Agent Fox Mulder aus „Akte X“?

Ich habe die Ehre dieses Rätsel für Emmygunde und alle anderen faszinierten Kreisel-Beobachter lösen zu dürfen.

 

Die (Un)zulänglichkeit unserer Kameras

Zunächst einmal: Niemand muss das FBI verständigen und Agent Mulder über den grossen Teich bitten. Keine Kamera kann etwas aufzeichnen, das nicht da ist. Auch diese Spiralen sind in gewisser Weise wirklich da. Und sie drehen sich auch wirklich. Aber sehr, sehr viel schneller als der Film es zeigt. So schnell, dass unser Gehirn ihre Drehbewegung gar nicht im Detail verarbeiten kann. Stattdessen setzt es „was immer es da – ohne Kamera – sieht“ zu einer einzigen Lichtsäule zusammen.

Eine Kamera – und das gilt für jedes für Normalsterbliche zugängliche Gerät, nicht nur für Emmygundes „Fusselskamera“, ’sieht‘ dagegen nach einem einfachen technischen Prinzip: Sie schiesst ein Foto nach dem anderen und zeigt uns diese Fotos ebenso schnell wie sie sie aufgenommen hat. Unser Gehirn besorgt den Rest und rechnet diese rasante Diashow zu einem bewegten Bild zusammen.

Die ursprünglichen Kameras, die noch mit Zelluloid-Filmen arbeiteten, haben tatsächlich ein Bild unter das nächste gereiht, wie auf einem endlos langen Dia-Streifen. Dabei hatte jedes Einzelbild das gleiche Format, zeigte einen Bildausschnitt in einem stets gleichartigen „Rahmen“, welcher bei der Wiedergabe gerade auf die verwendete Leinwand passte. An diese Rahmen angelehnt heissen die Datenpakete, die bei einem digitalen Film den Einzelbildern entsprechen, auch heute noch „Frame“, entsprechend dem englischen Wort für ‚Rahmen‘.

Und die Framerate, die Anzahl aufgenommener Bilder pro Sekunde, ist je nach Modell der Kamera höher oder niedriger, aber stets begrenzt. Was immer sich also vor der Linse bewegt, wird nur in Form einer Reihe von Moment-Ausschnitten der Bewegung festgehalten. Als würde man eine Wellenlinie darstellen, indem man nur in regelmässigen Abständen ihre Schnittpunkte mit senkrechten Linien auf dem Bildschirm markiert. Unser Gehirn erkennt sofort, dass diese Ansammlung von Punkten eine Wellenlinie wiedergibt:

 

Punktkurve

Wiederkehrende Bewegung wird zum Problem: Der Alias – Effekt

Wenn man eine fortschreitende Bewegung – zum Beispiel eine Katze, die von links nach rechts durchs Bild läuft – filmen möchte, funktioniert die Darstellung in einzelnen Frames wunderbar. Auch eine Bewegung, die sich langsam in gleicher Weise wiederholt, zum Beispiel ein Kind auf einer Schaukel, lässt sich in Zusammenarbeit mit unserem Gehirn prima wiedergeben.

Wiederholt sich eine Bewegung jedoch zu schnell, ergeben sich aus der Aneinanderreihung der Moment-Ausschnitte seltsame Dinge, die in Wirklichkeit so nicht stattgefunden haben. Eine solche sich wiederholende Bewegung ist auch die Wellenlinie auf dem Bildschirm:

 

Von der Bewegung zum Alias-Effekt


(nach: „Aliasing mrtz“ by mrtz (Own work) [CC BY-SA 2.5], via Wikimedia Commons)

Diese Wellenlinie „bewegt“ sich fast ebenso schnell auf und ab (sie hat eine höhere Frequenz als die Wellenlinie im ersten Bild) wie senkrechte Linien aufeinander folgen. Aufgezeichnet werden aber nur die Schnittpunkte der Wellenlinie mit den Senkrechten, die mit einem kleinen Kreis markiert sind. Wenn wir uns diese Momentaufnahmen aneinandergereiht wieder ansehen, setzt unser Gehirn sie zu dem zusammen, was sie scheinbar zeigen – nämlich die rote Kurve! Auch die ist eine Wellenlinie, die zwar die gleiche Auslenkung wie die „wirkliche“ Welle, aber eine sehr, sehr viel kleinere Frequenz hat (anstelle von 20 „wirklichen“ Wellenbewegungen passt gerade einmal eine einzige in das Bild).

 

Diese „fehlerhafte“ Wiedergabe von solch zu schnellen Bewegungen in „zu wenigen“ Einzelbildern wird Alias-Effekt oder kurz Aliasing genannt.

 

Wenn man von der Welle auf dem Papier zu ‚richtigen‘ wiederkehrenden Bewegungen geht, nehmen Alias-Effekte oft skurrile Ausmasse an. Das berühmteste Beispiel ist wahrscheinlich die Drehung von Wagenrädern im Western-Film: Wenn ein Wagen mit Speichenrädern anfährt und immer schneller wird, nähert sich die Frequenz der Speichen, die z.B. eine genau senkrechte Position im Rad durchlaufen, immer weiter der Framerate (im Kinofilm sind das 24 Bilder in der Sekunde) an.

Sobald dabei mehr als halb so viele Speichen die Senkrechte durchlaufen wie Einzelbilder aufgenommen werden, wird die Sache seltsam: Es entsteht ein Alias-Effekt. Denn sobald sich die Räder sich zwischen zwei Einzelbildern um genau den halben Abstand zwischen zwei Speichen drehen, ist der Aneinanderreihung der Einzelbilder nicht mehr zu entnehmen, ob sich das Rad vor- oder rückwärts in die gezeigte Position (wechselweise Speiche und Zwischenraum) gedreht hat.

Drehen sich die Räder noch schneller, zeigt jedes Einzelbild die Speichen in einer scheinbar früheren Position als im vorangehenden Bild: Die Räder, welche der Film zeigt, drehen sich rückwärts (während der Wagen ordnungsgemäss vorwärts rollt)! Auch die rote Welle in der Abbildung oben schwingt „rückwärts“: Ihre Auslenkung erfolgt zuerst nach unten und dann nach oben, während die wirkliche Welle zuerst nach oben schwingt.

Sobald die Räder sich zwischen zwei Einzelbildern um genau eine Speiche weiter drehen (also 24 Speichen in der Sekunde), zeigt jedes aufgenommene Bild die Speichen in exakt der gleichen Position. Zusammengesetzt ergeben diese Bilder den Eindruck, dass die Räder stehen.

Erst wenn der Wagen dann noch schneller fährt, scheinen sich die Räder vorwärts weiter zu drehen, wenn auch zunächst viel zu langsam.

 

Das „Abtasttheorem“, eine mathematische Gesetzmässigkeit, besagt, dass eine wiederkehrende Bewegung höchstens halb so schnell ablaufen darf, wie die Einzelbilder eines Films aufgenommen werden können, wenn man einen Alias-Effekt vermeiden möchte. Anders gesagt: die Framerate der Kamera muss mindestens doppelt so hoch sein wie die Frequenz der aufzunehmenden wiederkehrenden Bewegung.

Lichterkreisel mit Alias-Effekt

Auch Emmygundes Lichtkreisel – und mit ihnen die eingebauten Lichter – drehen sich im Kreis wie die Radspeichen, bewegen sich also wiederkehrend. Und zwar sehr viel schneller als die Kamera Einzelbilder davon aufnehmen kann. Das führt dazu, dass wir anstelle der „wirklichen“ Lichterscheinung, welche die Kreisel erzeugen, auf dem Video „nur“ den Alias-Effekt zu sehen bekommen. (Dass wir das vom Kreisel nach oben abgestrahlte Licht, welches zu den Spiralen führt, überhaupt von der Seite sehen, ist dem Staub und allerlei Partikeln in der Luft zu verdanken, die das Licht auch in Seitenrichtung streuen.)

Wer dabei genau hinsieht, wird feststellen, dass auch die sich langsam drehenden Spiralen zwischendurch die Drehrichtung wechseln, während die Kreisel sich in die gleiche Richtung weiterdrehen – ein deutliches Zeichen für einen Alias-Effekt! Anders als der anfahrende Wagen im Western werden die Kreisel jedoch langsamer (aufgrund von Reibung an Luft und Fussboden), sodass sich die Kreiselfrequenz der kritischen halben Framerate von oben annähert, bis der Alias-Effekt schliesslich aufhört (bzw. aufhören würde, würde der Kreisel nicht vorher umkippen).

Um Alias-Effekte zu verhindern – vor allem bei Tonaufnahmen (auch Schall ist eine Wellenbewegung!) – werden gar zu hohe Frequenzen vor der Aufzeichnung häufig herausgefiltert: Ein sogenannter Tiefpassfilter lässt nur Töne auf die Aufnahme, deren Frequenz höchstens halb so hoch ist wie die Aufzeichnungsrate (denn auch bei Tonaufnahmen gibt es akustische „Frames“). Sehr hohe Töne können die meisten Menschen ohnehin nicht hören – aber auf einem tiefpassgefilterten Kreisel-Video würde man den eigentlichen Inhalt des Films, den Kreisel samt Lichterspiel, nicht mehr kreiseln sehen…und das wäre doch schade.

So wünsche ich weiterhin viel Spass mit ‚Fusselchens‘ Gabe zauberhafte Alias-Effekte zu erzeugen!

 

Und welchen „magischen“ Alias-Effekt konntet ihr schon beobachten?