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Radioaktivität: Warnschild in Prypjat

Es ist der 26. April 1986, 0:30 osteuropäischer Zeit. An der nördlichen Grenze der späteren Ukraine – derzeit noch Teil der Sowjetunion – hat Alexander Fjodorowitsch Akimov Bauchschmerzen. Akimov ist Schichtleiter im Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl und betrachtet voller Unbehagen die Anzeigen im Kontrollraum „seines“ Reaktors. Eigentlich sollte er längst damit beschäftigt sein, den Reaktor wieder auf Vordermann zu bringen – aber Genosse Djatlov besteht darauf, den geplanten Test innerhalb der nächsten Stunde durchzuführen. Und wenn der Chef sagt, es werde getestet, dann wird getestet. Denn Akimov ist nicht darauf aus, sich einen neuen Job zu suchen.

Es soll getestet werden, ob der Reststrom, den die Kraftwerksturbinen bei einem Stromausfall liefern, reicht, um die Zeit bis zum Anlaufen der Notstromgeneratoren zu überbrücken. Eigentlich hätte man das schon 1983 tun sollen, bevor man den Kasten für den Regelbetrieb freigab – und nun, nach 3 Jahren Bummelei, hatte man es plötzlich nur allzu eilig damit.

Der „Kasten“ – der Reaktor in Block 4 – besteht aus einem Zylinder aus Graphit – reinem Kohlenstoff – 8 Meter hoch, 12 Meter im Durchmesser, durchzogen von etwa 1700 Kanälen für Brennstäbe, Steuerstäbe und hindurchfliessendes Kühlwasser. Die Anlage ist dazu gedacht, mit einer Nennleistung von 3200 MW Strom zu erzeugen, indem sie bei einer Betriebstemperatur von etwa 300°C – erzeugt durch Kernspaltung – Wasser erhitzt, um mit dem Dampf Turbinen anzutreiben. Der Graphit sorgt dabei als Moderator für die Aufrechterhaltung der Kernspaltungsreaktion.

Einen Gefahren-Test macht man allerdings nicht unter Volllast. Und da man einen Kernreaktor nicht einfach mal schnell runterfahren kann, hat man schon am vergangenen Morgen mit der langsamen Regelabschaltung begonnen. Dann aber brauchten die Genossen unbedingt mehr Strom im Netz, sodass sie noch einen halben Tag bei halber Last weiterproduziert hatten, ehe man weiter herunterfuhr. Und jetzt ist der ganze Kasten voller Xenon-Gift, das die Kernspaltung und damit die ganze Reaktorfunktion ausbremst – so sehr, dass der Reaktor gerade eben wegen irgendeinem Mist beinahe völlig abgeschmiert wäre.

Inzwischen haben Akimov und die Crew nahezu alle Steuerstäbe, die die Kernspaltung bremsen sollen, aus dem Reaktor entfernt, und der Kasten läuft so gerade eben stabil. Von den Vorschriften ist das jedoch weit entfernt! Und das bereitet Akimov umso mehr Bauchschmerzen, je weiter die Vorbereitungen für den Test voranschreiten.

Um 1:23:04 ist es schliesslich soweit: Der Test beginnt. Das Notkühlsystem ist abgeschaltet, damit es im Testverlauf nicht dazwischenfunkt, und Akimov verdrängt den Knoten in seinem Magen, als er die Schliessung der Turbinenschnellschlussventile anordnet – das Startsignal für den Test.

Dadurch wird der Kühlwasserdurchfluss gestoppt, und es wird binnen Sekunden wärmer im Reaktor. Die Wärme fördert die Reaktorleistung ungemein – nun rasch die Bremsstäbe wieder einfahren…wenn die nur nicht so quälend langsam wären! Indessen steigt die Reaktorleistung geradezu exponentiell weiter, denn der anfahrende Reaktor reinigt sich in Sekundenschnelle selbst, während dem Schichtleiter der Schweiss ausbricht: Das gerät ausser Kontrolle – Sofort Abschalten! Akimov betätigt rasch den Notabschaltungsknopf, und alle Bremsstäbe fahren – immer noch langsam! – gleichzeitig in den Reaktor zurück. Doch die Spitzen der Stäbe bestehen aus Graphit, der die Kernreaktion fördert und nicht bremst, bis das eigentliche Bremsmaterial in den Stabschäften tief in den Reaktor gelangt. Doch bis dahin sind die „Bremsen“ wirkungslos: 40 Sekunden nach Testbeginn wird die Kernreaktion endgültig zum Selbstläufer.

So wird es unweigerlich zu heiss im Reaktorkern, und das Ganze fliegt Akimov und der Crew buchstäblich um die Ohren: Wasserleitungen brechen und Wasser kann mit heissem Graphit und Zirkonium aus den Brennstabmänteln reagieren. Es entsteht Wasserstoff, der mit Luft eine explosive Mischung bildet. Eine Knallgas-Explosion deckt schliesslich den Reaktordeckel und das Dach des Kastens ab. Indes fördert Graphit die Kernreaktion umso besser, je heisser er ist. So steigt die Temperatur im Reaktor bis über 2000°C. Die Brennstäbe und alles andere im Reaktorkern beginnen zu schmelzen. Durch das offene Dach kommt dabei Luft an das glühende Riesenbrikett, das vom Reaktor übrig ist, und Hunderte Tonnen Graphit brennen lichterloh. Eine radioaktive Rauchwolke steigt über 1000m hoch aus den Trümmern auf.

Es wird über zwei Wochen dauern, bis allein der Graphitbrand gelöscht und das Austreten des radioaktiven Rauchs unterbunden ist. Akimov erlebt dies nicht mehr. Er stirbt am 11.5.1986 an akuter Strahlenkrankheit.

havarierter Reaktor in Tschernobyl am 27. April 1986

Der havarierte Reaktorblock 4 am 27. April 1986 – rechts neben dem zerstörten Reaktor sind weitere Schäden am Dach der Turbinenhalle sichtbar. Helikopterpiloten und Fotograf sind während des Überflugs hochgefährlichen Strahlenmengen ausgesetzt. (Bild: Chernobyl NPP)

Wie man aus Atomen Energie gewinnt

Über Atome

Alle Materie der Welt besteht aus Atomen. Jedes Atom besteht aus einem Kern aus Protonen und Neutronen sowie aus einer Elektronenhülle. Auf der Erde sind 118 chemische Elemente bekannt, deren Atome sich durch ihre charakteristische Protonenzahl unterscheiden. Die Neutronenzahl ist hingegen für ein bestimmtes Element nicht festgelegt: Atome eines Elements mit verschiedener Neutronenzahl nennt man Isotope.

Wasserstoff-Isotope: Wasserstoff , Deuterium , Tritium

Die drei natürlichen Isotope des Wasserstoffs: Die Zahl links oben in der „Nuklidschreibweise“ steht für die Summe aller Kernteilchen bzw. die Atommasse. Die Zahl links unten steht für die Zahl der Protonen, welche die Zugehörigkeit zu einem Element bestimmt: Atome aller Wasserstoff-Isotope haben ein Proton. Einfacher Wasserstoff (auch „Protium“) und Deuterium sind stabil, Tritium ist radioaktiv. (Bild: Dirk Hünniger (Own work) [GFDL or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons)

 

Atome können sich zu chemischen Verbindungen – Moleküle, Salze und andere – „zusammentun“, wobei sich ihre Elektronenhülle verändert, die Kerne aber unverändert bleiben (das ist Chemie).

Jedoch können auch Atomkerne verändert werden: Wenn sich dabei die Protonenzahl ändert, entstehen Atomkerne anderer Elemente (das ist Kernphysik bzw. Nuklearphysik).

„Nucleus“ ist übrigens das lateinische Wort für „Kern“. So hat alles, was in der Physik mit dem Begriff „nuklear“ behaftet ist, irgendwie mit Atomkernen zu tun. So hat die Bezeichnung „Nuklear-“ auch Eingang in die Sprache rund um die „Atomenergie“ gefunden.

 

Energie dank Massendefekt

Die Bildung von Atomkernen aus Protonen und Neutronen funktioniert ähnlich wie die Bildung von Molekülen in der Chemie: Beim Zusammenfügen der Teilchen wird Energie frei. Und je mehr Teilchen im Atomkern zusammenkommen, desto mehr Energie wird frei. Das wird ersichtlich, wenn man Atomkerne wiegt: Ein Heliumkern wiegt nämlich weniger als je zwei einzelne Protonen und Neutronen: Die fehlende Masse wurde als Energie abgegeben! Und da der „zu leichte“ Atomkern zu dem Gedanken verleitet, er sei irgendwie kaputt, nennt man diese Erscheinung „Massendefekt“.

Allerdings gilt das nur für Atomkerne, die höchstens so schwer sind wie ein Eisen-Kern. Um schwerere Kerne als die des Eisens zusammenzubauen, muss man Energie hinzufügen. So sind die Atomkerne der Elemente jenseits des Eisens tatsächlich schwerer als die Summe ihrer Protonen und Neutronen. Findige Physiker kamen so in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Idee, schwere Atomkerne auseinanderzubauen, um an diese Energie heranzukommen und sie zu nutzen.

 

Der Coup mit der Kernspaltung:

Auf manche Kerne braucht man dazu bloss ein einzelnes Neutron zu schiessen: Sobald das Neutron von solch einem Kern aufgenommen wird, hält dieser nicht mehr zusammen: Er wird gespalten, d.h. er zerfällt in Stücke, darunter meist zwei Kerne leichterer Elemente und ein oder mehrere einzelne Neutronen. Zudem wird ein Teil seiner Kernbindungsenergie frei, teilweise als Bewegungsenergie der Bruchstücke, teilweise in Form von Gamma-Quanten („Licht“) und teilweise in Form grosser Mengen Wärme.

Das Praktische daran ist: Die frei werdenden Neutronen können weitere Atomkerne treffen und spalten, sodass sich die Kernspaltung in einer Kettenreaktion in einem spaltbaren Material unter den richtigen Bedingungen selbst unterhält.

Zu diesen Bedingungen zählt unter anderem die passende Energie bzw. „Geschwindigkeit“ der Neutronen-Geschosse: Zu schnelle Neutronen, wie sie bei einer Kernspaltung freigesetzt werden, prallen nämlich in den meisten Fällen wirkungslos von spaltbaren Kernen ab. Deshalb benötigt man für eine Kettenreaktion neben spaltbarem Material weitere Atome, von welchen schnelle Neutronen abprallen und dabei gebremst – „moderiert“ – werden können. Dafür eignen sich zum Beispiel Wasserstoff-Atome (viele heutige Kernreaktoren enthalten Wasser als „Moderator“), oder Kohlenstoff-Atome, wie Graphit sie enthält.

 

Nutzung der Kernspaltung: Von Bomben und Steuerstäben

Die Kettenreaktion lässt sich auf zweierlei Weise ausnutzen: Wenn man möglichst viele „langsame“ Neutronen gleichzeitig auf spaltbares Material loslässt, pflanzt sich eine Kettenreaktion in Sekundenschnelle fort und setzt ebenso schnell eine riesige Menge Energie frei, die zu der gewaltigen Explosion einer Atombombe führt.

In einer ausgeklügelten Anlage kann man hingegen die Menge der zur Kernspaltung nutzbaren Neutronen sehr genau steuern. Dazu verwendet man bewegliche „Steuerstäbe“ aus einem Material, dessen Atome Neutronen aufnehmen können ohne gespalten zu werden. Je weiter diese Stäbe in einen Block aus spaltbarem Material und Moderator eingebracht werden, desto mehr Neutronen werden „verschluckt“ und können nicht mehr an der Kettenreaktion teilhaben. Mit solch einem Reaktor, in dem kontrolliert Wärme durch Kernspaltung entsteht, kann man in einem Atomkraftwerk Strom erzeugen.

 

Und was ist mit der Strahlung?

Obwohl herumliegende Trümmer eindeutig eine andere Sprache sprechen, beharrt die Kraftwerksleitung in Tschernobyl bis zum Abend des 26. Aprils darauf, dass der Reaktor bei dem Unglück intakt geblieben sei. In Folge dessen wird die Bevölkerung der 5 km entfernten Siedlung Prypjat erst am 27. April evakuiert.

Erst, nachdem im 1200 km entfernten schwedischen Kernkraftwerk Forsmark am 28. April um 9:00 wegen erhöhter Radioaktivität Alarm ausgelöst wird, welche nach erfolgloser Suche nach eigenen Lecks auf einen Fallout aus (Wind-)Richtung Sowjetunion zurückgeführt wird, dringt die Nachricht von dem Unglück in Tschernobyl in den Westen durch.

Die Nachrichten von radioaktivem Niederschlag über weiten Teilen Europas schüren Verunsicherung und Ängste bei der Bevölkerung. Allein in Nordrhein-Westfalen werden Hunderte Naturwissenschaftler – „jeder, der irgendein chemisches Element buchstabieren konnte“ – rekrutiert, um die Notfall-Hotline der Landesregierung zu besetzen und die Fragen zahlloser verängstigter Bürger zu beantworten.

Ich bin viereinhalb Jahre alt, als mein Vater – einer der Physiker, die an jener Hotline Dienst taten – uns erklärt, dass Mama meine Schwester und mich nicht im Garten spielen lasse, weil es nach einem schlimmen Unfall weit im Osten „Gift“ geregnet habe.

Inzwischen sind die ersten der insgesamt 600.000 bis 800.000 „Liquidatoren“ in Tschernobyl mit Aufräumarbeiten beschäftigt: Jene Männer, die Trümmer des zerstörten Block 4 vom Dach des benachbarten Blocks 3 räumen, dürfen sich der Strahlung wegen nur jeweils 40 Sekunden auf dem Dach aufhalten. Ein Mann für jede Schaufel Abraum. Andere werfen mit Hubschraubern Löschmittel auf den havarierten Reaktor ab, begraben tonnenweise Erde unter Beton, versuchen Staub an den Boden zu binden. Das Gebiet im Radius von über 30 Kilometern um das Kernkraftwerk wird evakuiert, dort lebende Tiere getötet, damit sie die Strahlung nicht aus der Sperrzone hinaustragen…

 

Aber was ist „radioaktive Strahlung“ eigentlich, und warum ist sie so gefährlich?

Was ist Radioaktivität?

„Radioaktivität“ ist eine Eigenschaft einiger Atomkerne: Nicht alle Kombinationen von Protonen und Neutronen in einem Atomkern halten fest zusammen. Solche instabilen Kerne sind radioaktiv, sie „bröckeln“: Früher oder später löst sich ein „Bröckel“ aus dem Atomkern und fliegt – sofern er nicht von aussen beeinflusst wird – mit Geschwindigkeiten im Bereich von 10000 km/s [2] geradeaus davon.

Solche „Bröckel“ können α- oder β-Teilchen sein (da diese Teilchen geradlinig vom Atomkern wegfliegen, erscheinen sie auf den ersten Blick wie „Strahlen“ und werden oft auch so genannt). α-Teilchen sind nackte Helium-Atomkerne, bestehend aus je zwei Protonen und Neutronen, während β-Teilchen Elektronen (oder Anti-Elektronen, „Positronen“) sind, die entstehen, wenn ein Neutron im Kern zu einem Proton zerfällt und dabei ein Elektron abgibt (bzw. ein Proton ein Positron abgibt und als Neutron verbleibt). Die einzigen „echten“ Strahlen sind γ-Strahlen: Dabei handelt es sich um sehr energiereiche „Licht“-Wellen, die von besonders energiereichen Atomkernen abgegeben werden können.

In der Natur gibt es viele derart instabile Kerne, die radioaktiv sind. Viele Elemente bestehen aus einem Gemisch aus stabilen und radioaktiven Isotopen, sodass Stoffe, die sich aus solchen Elementen zusammensetzen, automatisch diese verschiedenen Isotope enthalten. So findet man zum Beispiel in Bananen, die von Natur aus viel Kalium enthalten, auch Atome des radioaktiven Isotops  40K, und jeder Mensch, der naturgemäss aus Kohlenstoffverbindungen besteht, enthält Atome des radioaktiven Isotops 14C. Dass unsere Umgebung einschliesslich uns selbst „strahlt“, ist also erst einmal normal.

Einmal abgestrahlte α-Teilchen kommen jedoch nicht weit: Auf ihrem Weg stossen sie immer wieder gegen andere Teilchen und verlieren an Energie und damit an Geschwindigkeit. Schon nach ein bis zwei Millimetern Flugstrecke in Luft ergattern sie sich irgendwo zwei Elektronen und werden zu normalen Helium-Atomen. β-Teilchen (Elektronen) finden spätestens nach 10 Metern in Luft ein Atom als neue „Heimat“. γ-Strahlen verhalten sich hingegen wie fast alles durchdringendes Licht und breiten sich geradezu unendlich weit aus, wenn ihnen keine besonders dichte Materie, wie ein dicker Blei-Klotz, im Wege steht.

Das „Ende“ von α- und β-Teilchen deutet es schon an: Wenn solch ein reisender „Bröckel“ mit Volldampf auf ein Atom trifft, kann dieses „kaputtgehen“: Der Einschlag kann Elektronen aus der Hülle schleudern. Die „Strahlen“ wirken ionisierend (auch γ-Strahlen haben diese verheerende Wirkung: Sie sind energiereicher als Licht (Lichtphänomene) und regen Elektronen so stark an, dass diese „ihr“ Atom verlassen können!).

Der Begriff „Ionisierende Strahlung“ beschreibt diese herumfliegenden Atomtrümmer also besser als der Pleonasmus „radioaktive Strahlung“ („radioaktiv“ bedeutet nichts anderes als „strahlend“).

 

Wie misst man „radioaktive“ bzw. ionisierende Strahlung?

Die ersten Wissenschaftler, die sich mit Radioaktivität beschäftigten, ahnten noch nichts von ihrer Gefährlichkeit. So interessierten sie sich vornehmlich für die Menge der Strahlung, die von einem radioaktiven Stoff ausging. Die Curies „erfanden“ deshalb die später nach ihnen benannte erste Masseinheit für die Aktivität – den Vergleich mit der Aktivität von einem Gramm Radium.

In einem Gramm Radium zerfallen in jeder Sekunden 37 Milliarden Atome und geben „Strahlen“ ab. Das entspricht einer Aktivität von einem Curie (Ci). Dieser enormen Strahlungsmenge sollte man jedoch tunlichst fern bleiben. So wird heute eine wesentlich „handlichere“ Einheit für die Aktivität verwendet:

Eine Stoffmenge, in welcher im Mittel in jeder Sekunde ein Atom zerfällt, hat eine Aktivität von einem Becquerel (Bq).

 

Ein Gramm Radium hat also eine Aktivität von 37 Milliarden Becquerel! Ein Gramm Natur-Uran hätte hingegen eine Aktivität von 25.290 Becquerel, ein Gramm natürliches Kalium 31,2 Becquerel. [1]

Wer sich mit der Gefährlichkeit von ionisierender Strahlung beschäftigt, wird sich allerdings mehr dafür interessieren, wie viele Strahlen einen Menschen (oder anderen Organismus) tatsächlich treffen und in ihm Schaden anrichten. Und Schaden wird angerichtet, wenn die Atome des Körpers die (Bewegungs-)Energie einfallender Strahlung aufnehmen. Deshalb wird häufig eine Energiedosis für ionisierende Strahlung angegeben:

Ein Kilogramm Materie (zum Beispiel Körpermasse), die eine Energiemenge von einem Joule aus Strahlung aufnimmt, erhält eine Energiedosis von einem Gray (Gy).

 

Wir alle sind tagtäglich natürlicher ionisierender Strahlung aus dem Weltraum ausgesetzt. Jedes Kilogramm unserer Körper nimmt daher täglich 3*10-5 (drei Hunderttausendstel) Gray aus der Weltraumstrahlung auf [2]. Die 1000 Liquidatoren, die am ersten Tag nach dem Tschernobyl-Unglück in unmittelbarer Nähe von Reaktorblock 4 eingesetzt wurden, bekamen dort eine Energiedosis von etwa 2 bis 20 Gray ab [1].

Strahlung ist aber nicht immer gleich Strahlung. Wenn ein α-Teilchen mit hoher Geschwindigkeit auf ein Atom trifft, kommt das einem nuklearen Crash mit einem Lastwagen gleich, während sich die Begegnung mit einem ähnlich schnellen, aber rund 1000 mal leichteren β-Elektron im Vergleich dazu wie der Zusammenstoss mit einem Radfahrer ausnimmt. Zur Bestimmung der Gefährlichkeit der Strahlenarten muss ihre Energiedosis daher mit einem „Gefährlichkeitsfaktor“ multipliziert werden. Wenn dieser Faktor für β-Teilchen und γ-Strahlen 1 ist, beträgt er für α-Teilchen 20.

Durch die Multiplikation der Energiedosis mit dem Gefährlichkeitsfaktor erhält man schliesslich die Äquivalentdosis in Sievert (Sv), die in Strahlenschutz-Belangen Verwendung findet.

 

Pro Jahr ist ein Mensch durchschnittlich zwei Tausendstel Sievert (2 mSv) aus natürlicher Strahlung ausgesetzt, in Gegenden mit besonderen Vorkommen radioaktiver Elemente im Boden sogar deutlich mehr. Im Fall einer kurzzeitigen(!) Begegnung mit starker Strahlung macht sich eine Dosis bis etwa 200 mSv durch keinerlei Symptome bemerkbar. Erst darüber treten Symptome der Strahlenkrankheit auf. Wenn Menschen in kurzer Zeit einer Strahlendosis von 4,5 Sv oder mehr ausgesetzt sind, stirbt jeder zweite innerhalb von vier Wochen. Eine Dosis von 6 Sv oder mehr in kurzer Zeit gilt als absolut tödlich – die gleiche Dosis innerhalb von 50 Jahren bleibt hingegen ohne messbare Folgen [2].

 

Was bewirkt ionisierende Strahlung?

Ionisierende Strahlung kann mit einem Geigerzähler (eigentlich: Geiger-Müller-Zählrohr) registriert werden: In dem Zählrohr befindet sich ein dünnes Gas aus Atomen, die von einfallender ionisierender Strahlung in Ionen und Elektronen gespalten werden und in einem elektrischen Feld zu zwei Polen hingezogen werden. Die wandernden geladenen Teilchen schliessen so einen Stromkreis, was sich im angeschlossenen Lautsprecher als „Knack“ bemerkbar macht. Je mehr „Knacks“ es gibt, desto mehr ionisierende Strahlen sind in das Gas im Zählrohr eingeschlagen.

Wenn die ionisierende Wirkung ein Atom in einem Molekül trifft (zum Beispiel in einem Biomolekül wie DNA), kann das Molekül als solches Schaden nehmen. Da Radioaktivität eine ganz natürliche Sache ist, haben Zellen – auch menschliche – verschiedene Mechanismen entwickelt, um kaputte Biomoleküle, insbesondere DNA, bei Bedarf zu reparieren. Erst wenn die Zellen mehr ionisierende „Treffer“ einstecken müssen, als sie reparieren können, entstehen spürbare Zell- und Gewebeschäden.

Bei sehr grossen Strahlenmengen äussert sich das als „Strahlenkrankheit“. Weniger grosse oder über längere Zeit ertragene Strahlenmengen spürt man hingegen nicht sofort – was sie so tückisch macht. Dauerhaft beschädigte DNA kann jedoch – auch lange nach der Begegnung mit der Strahlung – zu Erkrankungen wie Krebs und Leukämie führen.

 

Was hat Radioaktivität bzw. ionisierende Strahlung mit Atomkraftwerken zu tun?

Die wohl wichtigste Atomsorte, die für die Kernspaltung geeignet ist und in grösseren Mengen in der Natur vorkommt, ist das Uran-Isotop 235U. Deshalb findet 235U sowohl in ersten Atombomben als auch in Reaktoren Verwendung (eigentlich ist das Isotop 238U noch sehr viel häufiger, aber nicht spaltbar, sodass bei der Herstellung von Kernbrennstoff ein Teil des 238U  aufwändig vom Rest getrennt werden muss, um  für die Kettenreaktion ausreichend „anzureichern“).

Unglücklicherweise sind sowohl 235U als auch 238U  von Natur aus radioaktiv. Beide Isotope sind α-Strahler, d.h. sie zerfallen zu Heliumkernen und Isotopen des Elements Thorium – die wiederum radioaktiv sind. Die Halbwertszeit – also jene Zeitspanne, in welcher die Hälfte einer Portion einer Atomsorte zerfällt, beträgt für 235U 703,8 Millionen Jahre, für 238U  4,47 Milliarden Jahre (das entspricht etwa dem Alter der Erde!). Eine Portion Uran enthält also immer – grossteils radioaktive – Atome einer ganzen Reihe verschiedener Elemente, die im Zuge der Abfolge verschiedener Zerfälle entstehen.

Allein deshalb erfordert der Umgang mit Uran schon besondere Sicherheitsvorkehrungen. Der eigentliche Haken an der Sache kommt aber noch:

In den wenigen Wochen, die das Uran in einem Kernreaktor zubringt, entsteht eine Vielzahl von Spaltprodukten und sehr schweren Atomkernen, die oftmals ihrerseits radioaktiv sind, durch „Verschlucken“ der herumfliegenden Neutronen.

Zu den Spaltprodukten zählt zum Beispiel das Xenon-Isotop 135Xe, das mit Vorliebe Neutronen schluckt und die Kettenreaktion ausbremst. Deshalb wird dieses Isotop als „Reaktor-Gift“ (das ist der „Xenon-Müll“ in der Einleitung) bezeichnet. Wenn ein Reaktor unter Volllast läuft, reagiert das 135Xe jedoch ebenso schnell weiter, wie es entsteht, sodass es sich nicht ansammelt. Während der Reaktor in Tschernobyl einen halben Tag lang nur mit halber Kraft lief, ist hingegen mehr 135Xe entstanden als abgebaut werden konnte, was die Kettenreaktion regelrecht ausgebremst und zu dem dramatischen Leistungseinbruch vor Beginn des fatalen Tests geführt hat.

Das Berüchtigste unter den entstehenden schweren Elementen, auch „Transurane“ genannt, ist das Plutonium, dessen Isotop 239Pu ebenfalls spaltbar ist und sowohl als Reaktor-Brennstoff als auch für Atombomben taugt (deshalb werden Uran-Brennstäbe gemäss den Regeln der Internationalen Atomenergie-Behörde so lange im Reaktor belassen, bis das entstehende 239Pu zu nicht spaltbarem 240Pu weiterreagiert ist [2]).

Insgesamt strahlt die bunte Mischung von Atomkernen in „verbrauchten“ Brennstäben rund 10 Millionen mal stärker als „frisches“ Uran! Und dabei haben viele dieser Kerne solch lange Halbwertszeiten, dass die Brennstäbe selbst 10 Jahre nachdem sie ausrangiert wurden, noch rund eine Million mal stärker als „frisches“ Uran strahlen [2]. Daraus ergibt sich die ungeheure Problematik bei der Lagerung dieses „Atommülls“: „Verbrauchtes“ Brennmaterial sollte möglichst lange möglichst weit weg bzw. abgeschottet von allem lagern können, bis seine radioaktiven Bestandteile zerfallen sind. Und da „möglichst lange“ viele Jahrtausende meint, gibt es noch keine Technologie, welche eine gefahrlose Lagerung auf der Erde über so lange Zeit wirklich sicherstellt.

 

Leser fragen zu Kernkraft und Radioaktivität:

Cornel van Bebber fragt auf Google+:

Was ist der Unterschied zwischen dem radioaktiven Zerfall im Kernkraftwerk in Tschernobyl und der Atombombe?

Im Grunde genommen gibt es keinen – denn der Brennstoff im Reaktor und Atombomben bestehen aus den gleichen Stoffen (allerdings muss das spaltbare Material für den Bau einer funktionierenden Bombe um einiges stärker angereichert werden als für den Kraftwerksbetrieb). Die Reaktionen, welche in einem Kraftwerk innerhalb von Wochen und Monaten ablaufen, finden bei der Explosion einer Atombombe in Sekunden statt – die Spalt- und Nebenprodukte sind aber weitestgehend die gleichen.

Besonders berüchtigt sind vor allem Cäsium-137 (137Cs), ein β-Strahler mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren, und Iod-131 (131I), ein β-Strahler mit einer Halbwertszeit von 8 Tagen. Beide sind mögliche Bruchstücke, die bei der Spaltung von 235U entstehen, und somit sowohl aus einer Bombe als auch aus einem havarierten Reaktor freigesetzt werden können.

Cäsium-137 ist besonders gefährlich, weil es chemisch den anderen Alkalimetallen, vor allem dem Kalium, ähnelt und leicht an deren Stelle  einen Weg in Organismen findet, und weil es zu energiereichen, „angeregten“ Barium-137-Kernen zerfällt, die wiederum γ-Strahlen abgeben, um zu nicht-strahlendem Barium-137 ( 137Ba ) zu werden. In der Medizin macht man sich diese γ-Strahlen bei der Strahlentherapie von Tumoren zunutze, aber in „freier Natur“ können sie auch auf gesundes Gewebe eine verheerende Wirkung haben.

Iod-131 zerfällt zwar recht schnell, aber der menschliche Körper lagert Iod-Atome rasch in der Schilddrüse ein, um sie zu Hormonen verarbeiten zu können. Dabei unterscheidet der Organismus nicht zwischen verschiedenen Isotopen, da diese sich chemisch gleichen. So kann in der Schilddrüse gesammeltes Iod-131 in kurzer Zeit merkliche Schäden anrichten und beispielsweise Schilddrüsenkrebs auslösen. Deshalb sind in der Schweiz im Einzugsgebiet von Kernkraftwerden Iod-Tabletten mit nicht-strahlendem Iod ausgegeben worden, die die Bevölkerung im Falle einer Freisetzung von Iod-131 schnell einnehmen soll. Damit soll erreicht werden, dass die betroffenen Körper das Tabletten-Iod zuerst einlagern und für Iod-131 möglichst keinen Platz mehr lassen.

Der grosse Unterschied zwischen Bombe und Kernkraftwerk besteht letztlich darin, dass das radioaktive Material durch die Explosion einer Atombombe weit verteilt wird und schnell ein grosses Gebiet „verstrahlt“, während es im Kernkraftwerk samt seiner abgestrahlten Teilchen und Strahlen im Reaktor bleibt und niemandem direkt schadet – normalerweise jedenfalls.

Nach dem Unglück in Tschernobyl durften meine Schwester und ich unseren Physiker-Vater in den Garten begleiten, um Bodenproben aus dem Sandkasten, Mamas Beeten und vom Grund des Gartenteichs zu nehmen. Mit den Proben sind wir dann nach Düsseldorf in die Uni gefahren, wo es eine Zähl-Apparatur gab, mit welcher Papa die Strahlung aus dem „Gift“ in unserem Garten messen und – so hofften wir zumindest – das Draussen-Spiel-Verbot allenfalls wieder aufheben konnte. Unsere und andere Messungen von Papas Kollegen ergaben allerdings, dass von den Böden in der Umgebung doch um einiges mehr Strahlung ausging als normal gewesen wäre.

 

Sichtbare Radioaktivität: Iod 131 in Gras aus Berlin, detektiert auf Planfilm 19 Tage nach dem Tschernobyl-Unglück

Schüler in West-Berlin legten am 15. Mai 1986 ein Büschel Gras von ihrem Schulhof für knapp 2 Tage auf einen Planfilm. Ionisierende Strahlung schwärzt, vergleichbar mit Licht, Filmmaterial. Auf dem hier gezeigten Negativ erscheinen stark strahlende Bereiche weiss. Der runde, schwarze Fleck rührt von einer Münze her, welche die gestreute Strahlung abschirmt. Wenn die weissen Flecken hier tatsächlich, wie von den Autoren angegeben, von Iod-131 herrühren, ist dem Datum nach davon auszugehen, dass hier allenfalls ein Viertel des ursprünglich in diesem Fallout freigesetzten Iod-131 „detektiert“ wurde (bei einer Halbwertszeit von 8 Tagen hat sich die Menge des Isotops seit der Freisetzung schon zweimal halbiert). (Bild: ViolaceinB (Own work) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons)

 

Cedric97 von itscedric.de fragt:

Block 4 ist ja in die Luft geflogen, aber die anderen drei Reaktoren liefen ja noch Jahre weiter. Meine Frage: Warum wurden die anderen Reaktoren weiter betrieben?

Laut der Wiener Umweltanwaltschaft, die auf Wikipedia zitiert wird, hat das Kernkraftwerk Tschernobyl – für die Sowjetunion eine „Vorzeige-Anlage“ – seinerzeit ein Sechstel des Atomstroms auf dem Gebiet der Ukraine geliefert, was 4 bis 10% des Gesamtstroms entspricht. Darauf konnte oder wollte der Staat seinerzeit nicht von jetzt auf gleich verzichten. Tatsächlich war die Fertigstellung der im Bau befindlichen Blöcke 5 und 6 nach Absinken der Radioaktivität noch geplant. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnte die Regierung der seither unabhängigen Ukraine gegen Ausgleichszahlungen seitens der EU dazu bewegt werden, die verbliebenen Blöcke 1 bis 3 des Kraftwerks endgültig abzuschalten („Memorandum of Understanding“ zwischen den G7-Staaten und der Ukraine vom 20.12.1995).

Gibt es bereits Vergleiche mit Tschernobyl zu den beschädigten Kernkraftanlagen in Belgien?

In meinen Augen wäre ein solcher Vergleich gar nicht sinnvoll: Die Kernkraftwerke Doel und Tihange in Belgien arbeiten mit Druckwasser-Reaktoren. Darin wird Wasser als Moderator und Wärmeüberträger verwendet, welches durch Überdruck im Reaktor-Druckbehälter am Verdampfen gehindert wird. Diese Druckbehälter einer bestimmten Baureihe weisen in Belgien nun eine grosse Anzahl Haarrisse auf. Würde ein solcher Behälter Leck schlagen, sodass es zu einem Druckabfall kommt, könnte das Wasser darin verdampfen und seine wärmeabführende Wirkung verlieren. Dann bestünde die Gefahr einer Kernschmelze.

Der Tschernobyl-Reaktor vom Typ RBMK-1000 war hingegen ein Siedewasser-Druckröhrenreaktor, der statt einem Druckbehälter viele unter Druck stehende Röhren mit Brennstoff sowie Graphit als Moderator enthielt. Auch weitere Sicherheitshüllen („Containment“), wie sie die belgischen (und andere westliche) Reaktoren umgeben, haben die RBMK-Reaktoren nicht. Die Freisetzung des hoch radioaktiven Materials aus dem Reaktor-Kerns nach der einmal eingetretenen Kernschmelze ist demnach nicht zuletzt auf die baulichen Schwächen dieses Reaktor-Typs zurückzuführen.

Erstarrte "Lava" aus vormals geschmolzenem radioaktivem Reaktormaterial im Dampf-Ventil im Keller von Tschernobyl

Geschmolzenes radioaktives Material aus dem havarierten Reaktor ist im Keller von Block 4 in Tschernobyl aus einem Ventil zur Dampf-Ableitung ausgetreten und erstarrt. Hier gab es keine Sicherheitsbehälter, die die lavaartige Schmelze hätten zurückhalten können. (Bild: The Kurchatov Institute (Russia) and the ISTC-Shelter (Ukraine); Quelle: International Nuclear Safety Program)

Als Nicht-Kernkraft-Ingenieurin kann ich also nur hoffen, dass die Verantwortlichen in Belgien (wie auch in der Schweiz – das Kernkraftwerk Mühleberg verwendet einen Reaktor-Druckbehälter des gleichen Herstellers wie die Kraftwerke in Belgien) wissen, was sie tun, und sich anders als die Ingenieure in Tschernobyl an ihre Vorschriften halten, bis die betreffenden Reaktoren endgültig vom Netz genommen werden.

 

Renate Thormann schreibt auf Facebook:

Ich halte es für wichtig, dass man sich immer und immer wieder der Langzeitfolgen bewusst bleibt. Da wird nicht genug hingesehen und es ist auch mangels Erfahrung gar nicht bekannt, was alles geschieht, wenn man lange auf kontaminiertem Gebiet lebt. Im Staate Washington ist grade wieder eine Riesenkatastrophe mit nuklearem Material geschehen. Das Leck dort bestand schon seit 2011 .. jetzt leckt es mehr als massiv, nämlich katastrophal. Was hört man davon? Nix? Eben … darum finde ich es am wichtigsten so viel wie möglich zu informieren. Langzeitfolgen im Auge zu behalten und Erfahrungen mit Radioaktivität auszutauschen. Es gibt eine „Sarkophag“ Seite, die immer über Tschernobyl berichtet ..

Innerhalb von 206 Tagen nach der Havarie von Tschernobyl umschliessen rund 90.000 Liquidatoren den gesamten Reaktorblock 4 mit einem zwanzig „Stockwerke“ hohen Kasten aus Stahlbeton, in dem die verbliebenen Überreste des geschmolzenen Kerns seither ruhen wie in einem Sarkophag.

Dieses schon gewaltige Bauwerk war auf eine Lebensdauer von etwa 30 Jahren ausgelegt, doch der Zahn der Zeit zeigte seine Spuren schon weitaus früher – es gibt verschiedene Berichte von Undichtigkeiten oder gar Teil-Einstürzen. So ist im Augenblick ein zweiter Sarkophag im Bau, welcher noch über den ersten geschoben werden und 100 Jahre halten soll. Doch was kommt dann?

der neue Sarkophag für den Reaktor von Tschernobyl im März 2016

Der neue Sarkophag im März 2016: Nach seiner Fertigstellung soll er über den alten Sarkophag (links im Hintergrund) geschoben werden. Das macht ihn zum bis Dato grössten beweglichen Gebäude der Welt. (Bild: Tim Porter (Eigenes Werk) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons)

 

Und die Reaktor-Ruine von Tschernobyl ist nicht die einzige unnatürliche Quelle ionisierender Strahlung. Moderne, nach allen Sicherheitsvorschriften betriebene Kernkraftwerke zählen meines Wissens nicht dazu. Stattdessen sind es Altlasten, die zunehmend Sorgen bereiten. Da ist die von Renate erwähnte Hanford Site in Washington State im Nordwesten der USA, ein ehemaliges Versuchsreaktoren-Gelände, auf welchem grosse Mengen radioaktiver Abfälle in Tanks lagern – Tanks, die altern und zunehmend Lecks aufweisen. Da ist der Reaktorunfall in Fukushima in Japan, der letztlich von Naturgewalten ausgelöst wurde. Die austretende Strahlung ist in der Natur dennoch nicht vorgesehen. Da sind die über Hiroshima und Nagasaki eingesetzten Atombomben und zahllose weitere Atomwaffentests

Nichts desto trotz ist das Atomzeitalter, wenngleich es sich nach der Meinung vieler dem Ende neigen sollte, noch jung – es zählt weniger als 100 Jahre. So sind unsere Kenntnisse der Langzeitfolgen durch das  Tschernobyl-Unglück und anderer unnatürlicher Strahlenquellen bestenfalls lückenhaft, in mancher Hinsicht noch gar nicht abzusehen, und sie werden nach wie vor kontrovers diskutiert.

So schliesse ich mich Renate von Herzen an: Erinnern wir uns an jene schicksalhafte Nacht auf den 26. April 1986, und an alle anderen schicksalhaften Augenblicke des Atomzeitalters und behalten wir ihre Folgen im Auge, um daraus für die Zukunft zu lernen.

Dieser Post enthält (nicht nur) meine Erinnerung und mag hoffentlich helfen zu verstehen, worum es bei Atomen, Kernkraft und Radioaktivität eigentlich geht.

 

Erinnert ihr euch noch an das Tschernobyl-Unglück? Wie habt ihr jene Tage vor 30 Jahren erlebt? Oder seid ihr erst „nachher“ zur Welt gekommen? Welche Bedeutung haben die Ereignisse für euch?

Literatur:

[1] Es gibt einen ausführlichen Artikel zum Unglück von Tschernobyl auf Wikipedia:  https://de.wikipedia.org/wiki/Nuklearkatastrophe_von_Tschernobyl. Die Einleitung des Posts ist eine freie Nacherzählung anhand der dortigen Darstellung des Unfallhergangs.

[2] Rudolf Kippenhahn (1998): Atom.Forschung zwischen Faszination und Schrecken. Erweiterte Taschenbuchausgabe im Piper-Verlag GmbH, München. (Das Buch ist vergriffen, aber auf dem Gebrauchtmarkt und in Bibliotheken zu finden: Ein umfassendes, auch für den Laien verständliches Werk, das durch die Geschichte der Atome und ihrer Erforschung führt und schliesslich umfassende Informationen zu Kernenergie und Radioaktivität bereithält.

[3] Weitere Einzelheiten und Bilder rund um Tschernobyl und das Unglück in englischer Sprache gibt es auch auf http://chernobylgallery.com/

Tigerschnegel : Bekämpfung unnötig - ich bin ein Verbündeter!

Endlich grünt und blüht es überall, und immer wieder scheint die Sonne, lockt uns hinaus ins Freie, in den Garten und auf den Balkon. Lange genug haben unzählige fleissige Hobbygärtner darauf gewartet, ihrem Lieblingshobby wieder frönen und zu Schaufel und Hacke greifen zu können, um bald ihrem mit Liebe herangezogenen Grün beim Wachsen zusehen zu können.

Zu den Hobbygärtnern zählen gewiss auch meine „Schwiegereltern“, die im Garten ihres Wochenendhäuschens Erdbeeren, Kartoffeln und manches mehr anzubauen pflegen. Doch obgleich Haus und Garten gute 30 Kilometer vom Standort der Kiste entfernt liegen, glaube ich die Flüche der Schwiegermutter schon wieder hören zu können: „Oh, diese Schnecken!! Ich werfe sie schon eimerweise über den Gartenzaun (keine Sorge um die Nachbarschaft: dahinter befindet sich eine wilde Wiese), aber ich glaube, die kommen immer wieder zurück!“

Wie es scheint, leiden die Schwiegereltern – oder besser ihr Garten – jahrein, jahraus unter einer gehörigen Schneckenplage. „Und wenn wir sie nicht absammeln und hinaus befördern, fressen uns die Biester alles kahl!“

Da muss es doch Abhilfe geben, denke ich, und fange an mich schlau zu lesen. Dabei stosse ich auf einen für manchen womöglich überraschenden Aspekt des Schneckenproblems: Den Weg über den Gartenzaun finden womöglich genau die falschen Schnecken. Nämlich jene, die ihr Eigenheim auf dem Rücken mit sich herumtragen und sich daran schleimfrei anfassen und aufheben lassen. Diese Arten ernähren sich nämlich vornehmlich von welken Pflanzenresten oder Algen.

Schneckenarten

Gehäuseschnecken wie die Bänderschnecken (links oben, CC BY-SA by Reto Lippuner) und die Weinbergschnecke (links unten, CC BY 3.0 DE by C.Löser) sind für Kahlschlag im Garten nicht verantwortlich. Die eigentlichen Feinde unserer Pflanzen sind Nacktschnecken, darunter die gefürchtete spanische Wegschnecke (rechts oben, CC BY-SA 3.0 by Aiwok), die rote (rechts unten, CC BY-SA 3.0 by Guillaume Brocker) und schwarze Wegschnecke, aber auch die kleinere, nicht minder gefürchtete genetzte Ackerschnecke (s. Artikelbild,).

 

Unsere eigentlichen Widersacher sind hingegen obdachlos: Nacktschnecken, wie die Spanische Wegschnecke, tun sich eifrig an frischen Blättern gütlich und hinterlassen unschöne Löcher oder gleich kahle Pflanzentriebe. Und Nacktschnecken anzufassen oder gar aufzusammeln kostet manchen Menschen schon einiges an Überwindung.

Aber der Mensch hat doch längst etwas erfunden, um im Krieg gegen die immer hungrigen Schleimer die Oberhand zu behalten… dieser Gedanke führt mich ins Gartencenter, in dem Bestreben, die Schwiegereltern von dieser einen Sorge zu befreien.

 

In der Verkaufshalle des Gartencenters erstreckt sich ein wahres Chemiker-Paradies meterlang und überkopfhoch vor mir: Düngemittel und Giftstoffe aller Art, gegen nahezu alles was da kreucht und fleucht und unserem geliebten Grünzeug über Gebühr auf die Pelle rücken könnte… und ein ganzer Regalboden bietet eine breite Auswahl dessen, was ich suche: Schneckenkörner. Doch warum gleich ein ganzes Regalfach? Was ist Schneckenkorn eigentlich, und worin unterscheiden sich die verschiedenen Sorten?

Schneckenkorn ist ein Granulat aus einem porösen Trägermaterial, das mit einem oder mehreren Wirkstoffen getränkt ist. Die wirklich effektiven Schneckengifte unter diesen Wirkstoffen haben die „Nebenwirkung“, dass sie Schnecken wie magisch anziehen und im besten Fall dazu verleiten, die Körner sogar zu fressen.

Schneckenkorn: Grosse Auswahl zu nur einem Zweck

Eines haben alle Schneckenkörner gemeinsam: Sie sorgen dafür, dass jede Schnecke, die diese vermeintlichen Leckerbissen frisst, alsbald das Zeitliche segnet. Und zwar alle Schnecken, gleich ob mit oder ohne Haus. Und ein schönes Ende haben sie gewiss nicht – das verrät eine nähere Recherche der verschiedenen Giftstoffe.

Schneckenkorn : Der Warnfarbstoff markiert das Gift für Menschen deutlich.

Ausgestreute Schneckenkörner, hier mit blauem Warn-Farbstoff: Achtung, giftig!

Methiocarb

Das wohl fieseste der Molluskizide – so werden Schneckengifte von Fachleuten genannt – werde ich in meinem Gartencenter in der Schweiz nicht finden: Es ist hierzulande gar nicht als Schneckenkiller zugelassen. In Deutschland auch nicht – dort ist es allerdings erst seit September 2014 verboten, sodass nur die deutschen Gärtner wissen mögen, ob und wieviel davon noch in ihren Schuppen und Kellern auf Vorrat lagert. In Österreich ist es hingegen durchaus möglich, Methiocarb in Schneckenkörnern anzutreffen. Deswegen soll es hier Erwähnung finden.

Methiocarb ist seines Zeichens ein sogenannter Acetylcholin-esterase-Hemmstoff.

Acetylcholin ist ein Neutrotransmitter – ein Molekül, dessen Aufgabe es ist, Nervensignale über den synaptischen Spalt, den Abgrund zwischen einer Nervenzelle und der nächsten zu „transportieren“: Wenn Acetylcholin die nächste Zelle erreicht, wird das Nervensignal innerhalb dieser auf elektrischem Wege weitergeleitet. Sobald das Acetylcholin diesen Job erledigt hat, kommt das Enzym Acetylcholinesterase zum Einsatz und zerlegt die Acetylcholin-Moleküle fachgerecht in wiederverwendbare Bruchstücke.

Unglücklicherweise (nicht nur) für die Schnecken finden Methiocarb-Moleküle und Acetylcholinesterase einander sehr anziehend und reagieren unwiederruflich miteinander. Allerdings kann das Enzym Methiocarb nicht zerlegen. Wenn die Acetylcholinesterase und Methiocarb zusammen finden, wirkt letzteres wie Sand im Getriebe: Nichts geht mehr, das Enzym-Molekül ist ausser Gefecht. Da hilft nur noch, das ganze Molekül zu verschrotten und neu zu bauen. Und das kann dauern – schliesslich ist solch ein Enzym ein ziemlich grosses und komplexes Protein.

Biochemiker sprechen von einer nicht-kompetitiven Inhibition der Cholinesterase. Dazu in der Lage sind z.B. auch das berühmte Insektizid Parathion „E 605“ und Kampfstoffe wie Sarin oder Tabun. Andere Stoffe, die die Cholinesterase kompetitiv hemmen, d.h. durch ausreichend Acetylcholin wieder verdrängt werden können, werden hingegen als Medikamente gegen verschiedene Krankheiten eingesetzt (z.B. „ACE-Hemmer“ gegen hohen Blutdruck).

 

Kommt schliesslich ein neues Nervensignal an den synaptischen Spalt, während die vorrätige Cholinesterase ausser Gefecht gesetzt ist, wird das ausgeschüttete Acetylcholin nach Erledigung seiner Aufgabe nicht abgebaut und sendet fröhlich weiter sein Signal, ungeachtet dessen, dass die nachfolgende Zelle unter dem Dauerfeuer völlig verrückt spielt.

Acetylcholin kommt an verschiedenen Übergängen zwischen Nerven- und anderen Zellen zum Einsatz, nicht zuletzt am Übergang von Nerven- zu Muskelzellen. Schnecken, die Methiocarb verspeisen, werden in Folge dessen geradezu rasend, sprich hyperaktiv, ehe die Muskelfunktion durch das synaptische Chaos gänzlich zum Erliegen kommt, sodass die Schnecken an Ort und Stelle verenden.

Das allein ist schon kein schönes Ende – hinzu kommt, dass man nach geschlagener Schlacht die herumliegenden Schneckenleichen noch beseitigen muss.

Der eigentliche Haken an der Sache kommt aber noch: Denn Acetylcholin findet nicht nur in Schnecken, sondern auch in den Körpern zahlreicher weiterer Tiere – Wasserlebewesen, Insekten, Vögel (die finden es jedoch alles andere als schmackhaft), Säugetiere, Menschen – als Neurotransmitter Verwendung. Wenn andere Gartenbewohner, Haustiere oder unbedarfte Exemplare unserer eigenen Spezies (Kinder!) die Schneckenkörner aufnehmen oder die verendeten Schnecken als Festmahl erachten, haben sie alsbald ebenfalls mit synaptischem Chaos zu tun: Erbrechen, Speichelfluss, Schwitzen, Durchfall, Atemnot und ein Lungenödem gehören zu den möglichen Symptomen einer Methiocarb-Vergiftung. Und besonders letzteres kann mitunter tödlich enden.

Da es einige Zeit dauert, bis Methiocarb im Boden abgebaut wird und es nur eine geringe Tendenz zum Versickern zeigt, können herumliegende oder gar fortgeschwemmte Methiocarb-Schneckenkörner oder verendete Schnecken schnell zur Gefahr für andere Lebewesen werden – und im schlimmsten Fall ganze Gewässer, in welche sie geraten, vergiften.

All das sind in meinen Augen wahrlich gute Gründe dafür, dass Methiocarb vielerorts nicht (mehr) gegen Schnecken eingesetzt werden darf.

Metaldehyd

Auch in der Schweiz erhältlich ist hingegen Schneckenkorn mit Metaldehyd. Dessen Molekül, das aufgrund seiner Symmetrie einer gewissen Schönheit nicht entbehrt, kann in vier Moleküle Acetaldehyd zerlegt werden, von welchem die eigentliche Giftwirkung ausgeht. Wer über den biochemischen  Katzenjammer gelesen hat, erinnert sich vielleicht, dass eben dieser Stoff, der auch beim Abbau von Alkohol im menschlichen Körper entsteht, einen guten Anteil an dessen Giftwirkung hat.

Acetaldehyd wirkt bei Schnecken vor allem auf jene Zellen in der Haut, die den glitschigen Schleim produzieren, welcher der Schnecke eigentlich unter anderem als Schutz gegen Austrocknung dient. Unter Acetaldehyd-Einfluss geraten diese Zellen jedoch völlig ausser Kontrolle und fabrizieren Schleim, Schleim und noch mehr Schleim, ohne Rücksicht darauf, dass die Schnecken bei all der Schleimerei früher oder später – eher früher – regelrecht dehydrieren und an Ort und Stelle an Wassermangel eingehen. Grössere Nacktschnecken erleiden auf diese Weise zuweilen jedoch „nur“ einen gewaltigen Kater und gehen k.o., bis der nächste Regenguss sie wieder auf die Beine – halt: auf die Unterseite – bringt. Deshalb sollten sie, einmal ausgeknockt, unbedingt eingesammelt und fortgeschafft werden.

Wie bereits angedeutet hat Acetaldehyd auch auf Menschen und andere Säugetiere in entsprechender Dosis eine erhebliche Giftwirkung. Zwar schleimen weder diese Tiere noch wir uns tot, doch kann Metaldehyd bzw. Acetaldehyd zu Fieber und Krämpfen führen, die unbehandelt die gleiche Wirkung haben können. Bis es dazu kommt, müsste ein Mensch laut Velvart(1993)[1] jedoch eine ganze Menge Metaldehyd zu sich nehmen: Ein Kleinkind muss angeblich bei unter 100 Schneckenkörnern auf einmal nicht mit ernsteren Vergiftungen rechnen.

Andererseits ist gemäss dem „Praktischen Tierarzt„, da vor allem Hunde oft regelrecht von herumliegenden Schneckenkörnern verführt werden, jeder Haustierarzt gut beraten, über die Symptome einer Metaldehyd-Vergiftung im Bilde zu sein.

Metaldehyd ist im Boden relativ gut beständig. Wenn es aber doch einmal zu Acetaldehyd zersetzt wird, können zahlreiche Organismen es zu harmloser Essigsäure oxidieren und weiter zu Kohlendioxid und Wasser abbauen.

In der Schweiz scheinen sich Metaldehyd-Schneckenkörner übrigens trotz der grossen Schleimerei grösster Beliebtheit zu erfreuen: Im Regal für Metaldehyd-Schneckenkörner im hiesigen Gartencenter herrscht bei meinem Besuch gähnende Leere: Alles ausverkauft! Erst im Kram-Fach an der Kasse sind mir noch zwei Pakete in die Hände gefallen, sodass ich mich von ihrem fiesen Inhalt überzeugen konnte.

[1] Velvart J.: Toxikologie der Haushaltsprodukte. Verlag Hans Huber, Bern; Stuttgart; Toronto, 1993

 

Eisen(III)phosphat

Anders verhält es sich mit Eisen(III)phosphat. Mit diesem auch als Bio-Schneckenkiller zugelassenen Wirkstoff präparierte Schneckenkörner stapeln sich noch zentnerweise in den Regalen – sowohl in der herkömmlichen als auch in der Bio-Variante (mit etwas geringerer Wirkstoff-Konzentration).

Eisen(III)phosphat ist ein Salz – eine Verbindung (hier) aus zwei Ionensorten, Eisen3+ -Ionen und Phosphat(PO43-)-Ionen. Sowohl Eisen- als auch Phosphat-Ionen sind an sich natürliche Bestandteile unserer Umwelt und vieler Organismen, sodass Eisen(III)phosphat für die meisten Lebewesen ungefährlich ist. Schnecken, die dieses Salz aufnehmen, verlieren allerdings rasch ihren Appetit. In Folge dessen ziehen sie sich in ihre Schlupfwinkel zurück und verhungern langsam, da sie keinen Drang mehr empfinden, sich etwas zu Fressen zu suchen.

Der Haken an der Sache: Um die Appetitlosigkeit lange genug aufrecht zu erhalten, sodass die Schnecken auch wirklich den Hungertod erleiden, müssen je nach Anzahl und Grösse der „Ziele“ erhebliche Mengen des Eisenphosphats ausgebracht werden. Die kosten natürlich Geld und wollen zu ihrem Bestimmungsort geschleppt werden. Ausserdem wird für grossflächigen Einsatz solcher Schneckenkörner, zum Beispiel im Ackerbau, die Phosphat-Belastung von Böden und Gewässern, wie man sie gemeinhin von Düngemitteln her kennt, diskutiert.

Schlussendlich habe ich alle Schneckenkörner im Regal gelassen. Nicht nur, dass mir jede der drei beschriebenen Todesarten nicht einmal schneckenwürdig erscheint – die möglichen Kollateralschäden bei dieser Art von Kriegsführung und die mangelnde Effektivität des Eisenphosphats lassen mich an der Zweckdienlichkeit der beschriebenen Mittel zweifeln.

 

Alternativen zu Schneckenkorn

Den Schwiegereltern kann ich nur empfehlen einfache Bretter im Garten auszulegen. Darunter verkriechen sich die Schnecken tagsüber mit Vorliebe, sodass man sie einfach absammeln und weiträumig „ausschaffen“ kann (aber nur die Nacktschnecken!).

Des Weiteren können mechanische Barrieren errichtet werden: Schneckenzäune, Schneckenkragen für empfindliche Sprösslinge, trockenes und scharfkantiges bzw. spitzes Streugut, über welches Schnecken nicht gut kriechen können, und manches mehr. All das ist allerdings je nach Grösse des zu verteidigenden Areals relativ aufwändig in der Umsetzung.

Bier-Fallen gehören streng genommen ebenfalls zu den chemischen Keulen: Von Bier wie magnetisch angezogen können Schnecken in ein im Boden eingelassenes Gefäss stürzen und im Gerstensaft ertrinken. Leider funktioniert das nicht nur mit Nacktschnecken, sondern auch mit ihren haustragenden Verwandten und vielen anderen kleinen Nützlingen, wie Insekten und Mäusen, sodass auch hier mit beträchtlichen Kollateralschäden gerechnet werden muss.

Einige Pflanzen haben den gefrässigen Schnecken eigenständig den Kampf angesagt und produzieren Stoffe, die von ihren schleimigen Gegnern als höchst widerlich empfunden werden. Dazu zählen viele Gewürzpflanzen bzw. Kräuter, wie Salbei, Thymian, Rosmarin, Lavendel oder Knoblauch, die zwischen Schösslinge gepflanzt ihre Umgebung unattraktiv für Schnecken gestalten können. Das Abschreckungsmittel von bestimmten Moosen ist als Lebermoos-Extrakt sogar im Handel erhältlich und kann als wirksames, aber biologisches Spritzmittel die Schnecken von bespritzten Pflanzen fernhalten.

Der natürlichste Weg zur Schneckenbekämpfung ist wahrscheinlich, sich im Kampf gegen die Plagegeister mit deren Fressfeinden zu verbünden. Der Igel ist wohl der bekannteste Schneckenfeind, doch auch Kröten und einige Vögel zählen zu den potentiellen Verbündeten. Wer die Möglichkeit hat Geflügel zu halten, hat in Hühnern, Fasanen oder Indischen Laufenten (letztere kann man sogar für einen vorübergehenden „Kampfeinsatz“ mieten!) schlagkräftige Kampfgefährten. Da viele dieser Tiere jedoch die – ursprünglich aus Südeuropa eingeschleppte – Spanische Wegschnecke als ungeniessbar erachten, gilt als einer der wichtigsten Fressfeinde dieser Art…

Tigerschnegel

Tigerschnegel: Dieser hübsche Geselle sollte ein willkommener Gast im Garten sein: Er ernährt sich unter anderem von anderen Nacktschnecken! (CC BY-SA 3.0 by G.U.Tolkiehn)

 

Eine Nacktschnecke: Der Tigerschnegel, eine bis zu 20 cm lange Nacktschnecke mit hübscher Leoparden-Zeichnung, ernährt sich neben welkem Pflanzenmaterial und Aas auch räuberisch von anderen Nacktschnecken – einschliesslich der Spanischen Wegschnecke. Wer diesen Gesellen in seinem Garten findet, muss sich nicht um seine Pflanzen sorgen, sondern kann sich über einen wertvollen Verbündeten im Kampf gegen die wirklichen Plagegeister freuen.

Mehr Spannendes zu den verschiedenen Schneckenarten gibt es übrigens in Robert Nordsiecks Seite „Die Lebende Welt der Schnecken„!

Fazit

Schneckenkörner sind wirksam, unterscheiden aber nicht zwischen Freund und Feind unter den Schnecken – und können auch für andere Lebewesen gefährlich werden. „Natürliche“ Strategien im Kampf gegen Schnecken sind zwar oft aufwändiger, aber letztlich zielgenauer und richten weniger Kollateralschäden an.

Mein Lebenspartner und ich haben meinen Schwiegereltern übrigens ein Igel-Hotel geschenkt, das nun seinen angestammten Platz im Garten hat. Und verirrte Schnecken auf unserem heimischen Balkon im ersten Stock erhalten umgehend einen Freiflug ins Igel-Terrain im Erdgeschoss!

Und wie geht ihr mit Schnecken im Garten um?

Chemie im Osternest: Ostereier und Farbstoffe

Der Frühling kommt unaufhaltsam, und mit ihm rücken die Ostertage immer näher. Nach dem grauen Winter gibt es wohl kaum jemanden, der sich nicht nach dieser hellen Zeit voller Farben sehnt: Sonne, Frühlingsblumen, bunte Eier… doch bis es soweit ist, und wir uns an den Farben freuen können, steht noch Arbeit an. Im Supermarkt gibt es reichlich Hilfsmittel im Angebot, unter anderem eine breite Palette von Färbemitteln für die Eier. Das verspricht Mal- und Bastelspass für Gross und Klein!

Als ich mir die Packungen – bei den beiden bekanntesten Schweizer Grossverteilern von einem deutschen Hersteller – genauer ansah, war jedoch zunächst einmal meine Chemiker-Neugier geweckt: Das Verzeichnis der Inhaltsstoffe bestand durchweg aus einer umfangreichen Liste von E-Nummern. Nun, die sind für sich erst einmal nichts schlimmes, sind doch einer ganzen Reihe nützlicher und gesunder Substanzen – beispielsweise vielen Vitaminen – E-Nummern zugeordnet, die als Kurzschreibweise die gesetzliche Kennzeichnungspflicht auf kleinstmöglichem Raum erfüllen. Hier jedoch beschlich mich ein Verdacht. Und da ich kein wandelndes E-Nummern-Lexikon bin, habe ich die Zahlensammlung rasch ins Smartphone abgetippt, um sie später in Ruhe nachzuschlagen.

Und ich sollte recht behalten: Die Liste hält eine wahre Fülle synthetischer Farbstoffe bereit, die auf den ersten Blick klangvolle, optimistische Namen haben:

  • E 104 Chinolingelb
  • E 110 Gelborange S
  • E 122 Azorubin
  • E 124 Cochenillerot A
  • E 131 Patentblau V
  • E 132 Indigotin
  • E 133 Brilliantblau FCF
  • E 142 Grün S
  • E 151 Brilliantschwarz BN

All diese Stoffe sind organische Verbindungen, und die Stoffklassen, welchen sie angehören, sind mir (und wohl jedem anderen Chemiker) aus dem Studium wohlbekannt: Zu den sogenannten Triphenylmethan-Farbstoffen zählen viele bekannte Indikatoren, zum Beispiel das Phenolphthalein, aber auch Patentblau V, Brilliantblau FCF und Grün S (E 131, 133 und 142). Einen Vertreter der sogenannten Azofarbstoffe, zu welchen E 110, E 122, E124, E 132 und E 151 zählen, habe ich einst sogar selbst im Labor synthetisiert. Dabei sind mir als sicherheitsbewusster Chemikerin neben den strahlenden Farben besonders diese Eigenschaften dieser Stoffe in Erinnerung geblieben: giftig, potentiell krebserzeugend, überaus wasserlöslich und damit im Handumdrehen überall verteilt. Und sowas sollte für Lebensmittel zugelassen sein?

Aber welche organischen Verbindungen sind eigentlich farbig? Kann man Farbstoffe nach Wunsch „erfinden“? Und wie gesundheitsschädlich sind die synthetischen Ostereier-Farben wirklich? Sollte man sie meiden?

 

Welche organischen Moleküle sind farbig?

Unser Eindruck von Farbigkeit organischer Stoffe entsteht genauso wie bei allen anderen Stoffen auch. In „Farben, Licht und Glanz – Wie die Welt uns bunt erscheint“ habe ich bereits vom Aufbau der Elektronenhülle von Atomen erzählt, innerhalb welcher Elektronen von Etage zu Etage „umziehen“ können, indem sie Licht mit einer genau passenden Wellenlänge schlucken. Was dann vom einstmals weiss erscheinenden Gemisch aller Licht-Wellenlängen übrig bleibt, bestimmt die Farbe, die wir sehen – nämlich die Komplementärfarbe zur geschluckten Wellenlänge.

Farbig sind also solche Teilchen, in deren Elektronenhülle es Abstände zwischen Energieniveaus („Etagen“) gibt, welche durch das Schlucken von Licht-Wellenlängen im sichtbaren Bereich überbrückt werden können. In einem Molekül, in welchem die Atome über Elektronenpaarbindungen miteinander verbunden sind, teilen die Atome gemeinsame Energieniveaus, welche ihrerseits in „Wohneinheiten“, sogenannte Orbitale, für je zwei Elektronen unterteilt sind. Und (nicht nur) für organische Moleküle gilt die Faustregel:

Die Abstände zwischen Energieniveaus liegen dann im sichtbaren Bereich, wenn sich viele Elektronen „Wohngemeinschaften“, also miteinander verbundene „Wohneinheiten“ bzw. Orbitale teilen – in der Chemikersprache gesagt: wenn die Elektronen „delokalisiert“ sind.

In den üblichen Einfach-Elektronenpaarbindungen bleibt allerdings jedes Elektronenpaar unter sich. Erst wenn Doppelbindungen vorkommen, wird die Sache interessant. Denn eine Doppelbindung kann man sich dergestalt vorstellen, dass eine zweite Bindung eine Einfachbindung zwischen zwei Atomen ähnlich einem Schlauch umgibt – und an beiden Enden ein gutes Stück darüber hinaus ragt. Wenn nun zwei Doppelbindungen auftreten, welche nur durch eine Einfachbindung voneinander getrennt sind, können die „überstehenden“ Enden der beiden Doppelbindungen miteinander verschmelzen, sodass die darin enthaltenen vier Elektronen sich entlang aller vier beteiligten Atome bewegen können – also delokalisiert sind.

Sich abwechselnde Doppel- und Einfachbindungen entsprechen also einer für farbige Stoffe massgeblichen atomaren „Wohngemeinschaft“.

Das bedeutet: Es lässt sich an der Lewis- oder Strichformel eines organischen Stoffes abschätzen, inwieweit dieser farbig ist! Dabei gilt grundsätzlich: Je mehr sich abwechselnde Doppel- und Einfach-Bindungen ein Molekül enthält, d.h. je weiter die enthaltenen Elektronen delokalisiert sind, desto farbiger ist der entsprechende Stoff.

Darüber hinaus kann die Farbe eines Stoffes weiter intensiviert werden, wenn das Molekül bestimmte Atomgruppen enthält, die an und für sich schon farbig sind. Eine solche „Chromophor“ genannte Atomgruppe ist die aus zwei Stickstoffatomen bestehende Azogruppe, -N=N-, welche den Azo-Farbstoffen ihren Namen gegeben hat.

 

Wie organische Farbstoffe aufgebaut sind

In einem typischen Farbstoffmolekül sind eine oder mehrere chromophore Gruppen in ein System aus sich abwechselnden Doppel- und Einfachbindungen eingegliedert. Nicht selten sind aromatische Ringe – meist sechseckige „Benzol-Ringe“ aus sechs Kohlenstoff-Atomen – Teil dieses Systems, da diese in ganz besonderer Weise delokalisierte Elektronen aufweisen. Da eben diese Besonderheit die aromatischen Ringe jedoch in vielerlei Hinsicht unreaktiv macht, enthalten gute Farbstoff-Moleküle überdies besonders reaktionsfreudige Atomgruppen, die mit anderen Stoffen feste Bindungen eingehen und dem Farbstoff so erlauben, am zu färbenden Material – zum Beispiel Textilfasern oder Eierschalen – möglichst waschecht zu haften. Solche Gruppen werden „Auxochrome“ – Farbhelfer – genannt.

Azorubin und Brilliantschwarz_BN

Azorubin (linke Formel) ist ein typischer Azofarbstoff, dessen Azogruppe (hellblau gerahmt) zwischen zwei aromatischen Ringen zu finden ist. Doppel- und Einfachbindungen wechseln sich in diesem System also über alle vier Ringe und die Azogruppe hinweg ab. Am Rand des Moleküls finden sich als Auxochrome mehrere Sulfonsäure-Gruppen (rosa gerahmt, dargestellt als Natrium-Salz). Eine Sulfonsäure-Gruppe ist nichts anderes als ein Teil eines Schwefelsäure-Moleküls, welcher mit dem Kohlenstoff-Gerüst des Farbstoffs verknüpft ist. Dementsprechend können diese Gruppen ähnlich wie Schwefelsäure sowohl Ionen- bzw. Säure-Base-Reaktionen eingehen, als auch Ester und andere feste Verknüpfungen über Elektronenpaar-Bindungen bilden. Sulfonsäuren, besser noch ihre Salze, sind also sowohl wasserlöslich als auch in der Lage, feste Bindungen einzugehen.

Die rechte Formel lässt überdies die Bedeutung der Chromophore erahnen: Brilliantschwarz – Schwarz als intensivste „Farbe“ ergibt sich, wenn sämtliche sichtbaren Lichtwellen geschluckt werden – enthält statt einer Azo-Gruppe gleich zwei – und der Stoff ist nicht bloss intensiv farbig, sondern schwarz.

Auch Triphenylmethan-Farbstoffe enthalten aromatische Ringe – wenn solch ein Ring an etwas anderes gebunden ist, nennen die Chemiker ihn „Phenyl-Gruppe“ – aber keine weiteren chromophoren Gruppen. Das Grundgerüst dieser Farbstoffe entspricht also einem Methanmolekül (CH4), in welchem drei der Wasserstoff-Atome durch Phenyl-Gruppen ersetzt sind (links im Bild die Strukturformel für „Triphenylmethan“, welches diesen Farbstoffen ihren Namen gibt). Auch im rechts gezeigten Patentblau V finden sich Sulfonsäuregruppen als Auxochrome.

Triphenylmethan und Patent_blue_V

Die Eigenschaften solcher Farbstoffe lassen sich nicht nur auf diese Weise aus den Strukturformeln ablesen.  Die Regeln der Chemie zur Farberscheinung und zu anderen Eigenschaften sind gar so präzise, dass Chemiker die Farbe eines Moleküls ausrechnen – bzw. sich ein Molekül mit der gewünschten Farbe und weiteren Eigenschaften ausdenken können! Da liegt es nahe, für Ostereier und andere Lebensmittel Farbstoffe zu designen, die sowohl die gewünschten Farben haben, als auch unschädlich für den menschlichen Körper sind.

 

Aber wie gesundheits(un)schädlich sind diese Designer-Farbstoffe wirklich?

Aufnahme und Anreicherung von Lebensmittelfarbstoffen

Der ideale Lebensmittelfarbstoff wird auf seinem Weg durch den Verdauungstrakt gar nicht erst vom Körper aufgenommen und unverändert wieder ausgeschieden. An dieses Ideal kommen die Triphenylmethan-Farbstoffe unter den Ostereierfarben nahe heran: Sie werden weder vom Körper aufgenommen, noch im Verdauungstrakt gespalten oder anderweitig verändert. Die auxochromen Gruppen erweisen sich in diesem Zusammenhang wiederum als nützlich: Aufgrund der guten Wasserlöslichkeit der Moleküle besteht überdies kaum Gefahr, dass diese sich – über längere Zeit aufgenommen – irgendwo im Körper anreichern.

Etwas anders sieht es bei den Azofarbstoffen aus, da der menschliche Organismus in der Lage ist, die Azo-Gruppe solcher Moleküle zu spalten. Somit müssen also nicht nur die Moleküle selbst, sondern auch die Bruchstücke unbedenklich sein. Und unter den Bruchstücken von Azo-Farbstoffen sind aromatische Amine, also solche, die neben einem Benzol-Ring auch eine zusätzliche Stickstoff-Gruppe enthalten, für eine krebserzeugende Wirkung berüchtigt. Jener Azo-Farbstoff, den ich einst im Labor synthetisiert habe, mag ein solches Fragment enthalten haben. Die Lebensmittelfarbstoffe enthalten derlei jedoch aus gutem Grund nicht. Ihre Bruchstücke sind harmlos und werden problemlos wieder ausgeschieden.

Allergische Reaktionen

Nichts desto trotz sind alle „Designer-Stoffe“, zu welchen die synthetischen Lebensmittel-Farbstoffe zählen, aus Sicht des menschlichen Körpers „Fremdstoffe“, welche pseudoallergische Reaktionen auslösen können. Dabei handelt es sich um unspezifische Abwehrreaktionen auf die Gegenwart eines Fremdstoffs: Wie bei einer Allergie können Entzündungssymptome auftreten, von Hautauschlag (Neurodermitis) bis hin zu Asthma. Das Ausmass dieser Symptome hängt dabei von der jeweiligen Dosis des Auslösers ab. Das heisst, ausreichend geringe Mengen des Auslösers werden mitunter gar keine spürbare allergische Reaktion auslösen.

Im Unterschied dazu werden bei einer „echten“ Allergie Antikörper gegen den Auslöser (das „Allergen“) gebildet, welche  das Immunsystem in Gang setzen und so die Abwehrreaktion auslösen. Da dieser Weg der Abwehr nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip funktioniert, können schon kleine Mengen eines Allergens eine heftige Reaktion nach sich ziehen.

Pseudoallergische Reaktionen auf Farbstoffe können also durch die Verwendung ausreichend kleiner Mengen weitgehend vermieden werden. Allerdings ist z.B. bei Personen, die auch auf den Aspirin-Wirkstoff Acetylsalicylsäure pseudoallergisch reagieren, häufig eine besondere Empfindlichkeit gegenüber Lebensmittelfarbstoffen beobachtet worden.

Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen

Seit 2007 ist eine Studie populär, die einen Zusammenhang zwischen der Aufnahme von Lebensmittelfarben aus der Gruppe der Azo-Farbstoffe und Hyperaktivität bzw. Konzentrationsstörungen von Kindern festgestellt haben will. Nach dem Arbeitsort ihrer Autoren wird diese Studie kurz als „Southhampton-Studie“ bezeichnet. Sie führte dazu, dass in der EU in jüngster Zeit eine Kennzeichnungspflicht für Lebensmittel mit Azo-Farbstoffen eingeführt worden ist: Solche Produkte müssen neuerdings eine Aufschrift „kann Aktivität und Aufmerksamkeit bei Kindern beeinträchtigen“ tragen. Ostereier-Farben sind übrigens davon ausgenommen – die bunten Eierschalen werden schliesslich nicht verzehrt, heisst es – weshalb ich auf den Verpackungen „meines“ deutschen Herstellers auch keinen solchen Hinweis gefunden habe.

Das Schweizer Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) bezeichnet die Southampton-Studie allerdings in vielen Punkten als unwissenschaftlich (die Kritikpunkte reichen von der Erhebung von Daten durch ungeschultes, nicht neutrales Personal bis zu unklaren Messgrössen und Untersuchungsgegenständen) und die Schlussfolgerungen daraus als widerlegt. Aus diesem Grund, so das BLV, gibt es in der Schweiz keine entsprechende Kennzeichnungspflicht.

Das Verhalten von Kindern bzw. Schülern ist ebenfalls Forschungsgegenstand in der Erziehungswissenschaft und Didaktik. So habe ich aus meiner Literatur aus der Lehrerausbildung den Eindruck gewonnen, dass wohl kaum ein Forschungsgegenstand schwieriger zu erfassen ist, als Einflüsse von Massnahmen – seien es Chemikalien oder Unterrichtsmethoden – auf das Verhalten von Kindern. Deshalb erfordern der Entwurf, die Durchführung und nicht zuletzt die Auswertung derartiger Studien in meinen Augen allerhöchste Sorgfalt und Vorsicht, sodass ich dazu neige, dem BLV und seinen Kritikpunkten in Sachen Lebensmittelfarbstoffen bei zu pflichten.

Insbesondere einen Zusammenhang zwischen Lebensmittelfarbstoffen und dem als ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom) bezeichneten Syndrom, welches gerne in diesem Kontext genannt wird, kann ich nicht nachvollziehen. Viel einleuchtender erscheint mir da, dass pseudoallergischer Juckreiz und ähnliche Reaktionen Kinder unruhig und unaufmerksam werden lassen.

 

Welche Alternativen gibt es zu synthetischen Ostereier-Farben?

Es liegt mir fern, die synthetischen Ostereier-Farben als „gut“ oder „schlecht“ abzustempeln. Vielmehr möchte ich Hintergrundwissen liefern, anhand dessen jeder selbst entscheiden mag, was für ihn, sie oder seine/ihre Kinder das Beste ist. Auf diesem Grundsatz – jeder hat das Recht selbst zu entscheiden, was er verwendet oder gar zu sich nimmt – basiert in meinen Augen auch unser Lebensmittelrecht, sowohl in der Schweiz als auch in der EU, welches die Auflistung von Inhaltsstoffen auf der Verpackung von Lebensmitteln und anderen Waren vorschreibt.

Nach allem, was ich nun gelesen habe, sehe ich keinen Grund zu der Annahme, dass synthetische Ostereier-Farben per se gefährlich sein bzw. unweigerlich krank machen sollten. Ganz und gar unbedenklich sind sie deshalb aber noch lange nicht – nicht zuletzt, weil jeder Körper anders auf einen Stoff reagieren kann. Das gilt übrigens für viele sogenannte Naturstoffe ebenso wie für synthetische Verbindungen, denn auch die meisten Naturstoffe sind aus Sicht des menschlichen Körpers letztlich Fremdstoffe. Und Allergien – auch „echte“ – auf „ganz normale“ Lebensmittelbestandteile sind uns zu Genüge bekannt.

Wer sich schliesslich für die Naturstoff-Variante für seine Ostereier entscheidet, kann eine ganze Reihe wunderschöner Naturfarbstoffe in Lebensmittel-Pflanzen wie Rote Bete (in der Schweiz „Rande“) (rot), Curcuma (gelb), Spinat (grün), Zwiebelschalen (braungelb) oder Rotkohl bzw. Blaukraut (blauviolett) finden.

Eine tolle Anleitung zum Färben mit diesen Farbstoffen und Verzieren der Eier mit Essig-Mustern gibt es auf der Website von GEOLino. Und die dort gezeigten Eier sind fast so strahlend bunt wie die synthetischen Designerfarben – der wärmeren Farbtöne wegen finde ich sie sogar schöner als jene, die auf den Verpackungen der synthetischen Färbemittel abgebildet waren!

Ob nun synthetisch oder mit Naturstoff-Eiern: Ich wünsche euch frohe, farbenreiche Ostern!

Und womit färbt ihr eure Ostereier?

Seltene Erden : Mine in Ytterby

Was sind „seltene Erden“? Warum ist dieser Name eigentlich irreführend? Was haben die chemischen Elemente, die diese Bezeichnung tragen, gemeinsam? Und warum haben sie gerade in den letzten Jahren häufig Schlagzeilen gemacht?

Das Artikelbild zeigt die aufgelassene Grube Ytterby heute (By Svens Welt (Own work) [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons). Traditionell statten alle Empfänger eines Nobelpreises dieser Fundgrube einzigartiger chemischer Elemente einen Besuch ab. Denn vor über 200 Jahren begann dort die Geschichte der seltenen Erden.

Ein Ausflug in die Geschichte: Als die seltenen Erden noch selten waren

Ytterby, Schweden, 1787. Leutnant Carl Axel Arrhenius streift über die Abraumhalden der Grube nahe des kleinen Dorfes auf einer Insel vor Stockholm. Schon seit dem sechzehnten Jahrhundert hat man hier Quarz für die Eisenhütten der Umgebung abgebaut, und neuerdings gewinnt man ausserdem Feldspat für die Porzellan- und Glasindustrie. Arrhenius interessiert sich jedoch nicht für diese beiden gar zu häufigen Mineralien, sondern für das, was die Minenarbeiter unweigerlich mit ihnen zu Tage fördern und als unbrauchbar auf den Halden entsorgen. Für den Leutnant ist die Stationierung im nahen Vaxholm ein Glücksfall, gibt sie ihm doch die Gelegenheit, hier in Ytterby seinem grossen Hobby, der Geologie, nachzugehen und nach Mineralien zu suchen.

Die Abraumhalden von Ytterby haben schon manch interessantes Fundstück für ihn bereit gehalten, sodass es Arrhenius immer wieder hier hinaus zieht. Doch was er nun in der Hand hält, ist wahrhaft aussergewöhnlich. Der schwarze Stein, ein raues Felsbruchstück, ist bemerkenswert schwer, und Arrhenius‘ Sammlerinstinkt lässt ihn ahnen: Das ist etwas ganz besonderes.

Gadolinit : Mineral mit seltenen Erden

Gadolinit: Grosser Einkristall (8.2 x 7.1 x 5.2 cm), Tuftane-Steinbruch, Frikstad, Norwegen (by Rob Lavinsky, iRocks.com – CC-BY-SA-3.0 [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons)

 

Welch ein Glück, dass er mit einigen der berühmtesten skandinavischen Chemiker seiner Zeit bekannt ist, und diese sich der Untersuchung seines seltsamen Fundstücks annehmen. Professor Johan Gadolin von der Universität von Åbo gelingt schliesslich eine vielversprechende Analyse: Rund 38% des schwarzen Minerals bestehen demnach aus einer ganz neuartigen „Erde“, welche Gadolin aus seinen Proben aus Ytterby isolieren kann. Als „Erden“ bezeichnen die Chemiker zu dieser Zeit die Oxide der Metalle – die Begriff „Oxid“ ist wesentlich jüngeren Datums.

Gadolins Erde erhält nach ihrem Herkunftsort den Namen „Yttererde“, und der Chemiker erkennt, dass darin ein neues Element enthalten ist. Später erhält dieses Element – wiederum nach dem Ort seiner ersten Entdeckung – den Namen Yttrium, während das schwarze Mineral zu Ehren seines Untersuchers „Gadolinit“ genannt wird.

Die eigentliche Überraschung, welche dieses Mineral in sich birgt, wird jedoch erst im Laufe eines Jahrhunderts voller Arbeit vieler Chemiker offenbar: Die Yttererde besteht nicht, wie man annehmen mag, aus reinem Yttriumoxid, sondern lässt sich in mehrere verschiedene Oxide auftrennen! Und mit vielen ähnlichen neuen „Erden“ verhält es sich ebenso.

Heute wird die chemische Formel des Gadolinits, welchem die Yttererde entstammt, mit (Ce,La,Nd,Y)2FeBe2Si2O10 angegeben. Damit enthält das Mineral nicht bloss eines, sondern gleich vier Elemente, welche Leutnant Arrhenius und Professor Gadolin ihrerzeit nicht bekannt waren: Yttrium (Y), Cer (Ce), Lanthan (La) und Neodym (Nd). Und die Aufzählung ihrer Symbole innerhalb der runden Klammern deutet an, warum Gadolin sie nicht gleich alle entdeckt hat: Diese Elemente sind sich chemisch so ähnlich, dass sie in natürlichen Kristallen (d.h. Mineralien) stets bunt gemischt vorkommen und mit den Methoden des späten 18. Jahrhunderts kaum zu trennen waren.

Reiche Erzlagerstätten dieser und weiterer einander täuschend ähnlicher Elemente, wie die Mine in Ytterby, sind nicht besonders häufig. So waren wohl auch die Oxide dieser Elemente anfänglich nicht nur neu und merkwürdig, sondern in der Welt der Chemiker und Mineralogen überdies selten, was den Elementen und ihren Verbindungen ihren bis heute verbliebenen gemeinsamen Namen eingebracht haben wird: „Seltene Erden“.

 

Ein Steckbrief der „seltenen Erden“

Seltene Erden sind:

  • nach heutiger Auffassung die Elemente Scandium, Yttrium, Lanthan und die 14 auf Lanthan folgenden Elemente, die auch „Lanthanoiden“ genannt werden: Cer, Praseodym, Neodym, Promethium, Samarium, Europium, Gadolinium, Terbium, Dysprosium, Holmium, Erbium, Thulium, Ytterbium und Lutetium:

Scandium, Yttrium und Lanthan sind sogenannte Übergangsmetalle, die im Periodensystem untereinander stehen. Das bedeutet, ihre Elektronenhüllen sind analog aufgebaut, was allein schon ihre chemische Ähnlichkeit erklärt. Die 14 Lanthanoiden werden (gemeinsam mit den Actinoiden) häufig in einer separaten Zeile unterhalb des Periodensystems aufgelistet, damit das Ganze vernünftig auf ein Blatt Papier passt. Eigentlich gehören sie nämlich in die sechste Periode zwischen Lanthan und Hafnium.

  • auf der Erde gar nicht so selten:

Grössere Seltenerd-Erzlagerstätten sind zwar selten, aber kleine Mengen der Elemente sind über eine Vielzahl von Mineralien und Erzen weit verteilt. So findet man das häufigste Seltenerd-Element Cer auf der Erde häufiger als Kupfer, während das seltenste, Thulium, noch häufiger ist als Silber.

  • einander sehr ähnliche Metalle:

Die elementaren Seltenerdmetalle sind silberweiss, metallglänzend und formbar – typische Metalle eben. Darüber hinaus sind sie in sehr ähnlicher Weise unedel und sehr reaktiv. Alle Seltenerdmetalle sind hochentzündlich, manche Lanthanoiden neigen sogar zur Selbstentzündung an der Luft. Deshalb werden viele Seltenerdmetalle für industrielle Zwecke häufiger in Form stabilerer chemischer Verbindungen verkauft anstatt als reines Metall.

Lanthanoide : Viele seltene Erden sind f-Elemente

Die Lanthanoiden (ausser Promethium) als reine Metalle by Tomihahndorf at the German language Wikipedia [GFDL or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons

 

  • Unverzichtbare Bestandteile der modernen Technik:

Ob als Bestandteil von Nickel-Metallhydrid-(NiMH)-Akkus, in „Supermagneten“, z.B. in Windkraftanlagen und Lasern, Computern, Bildschirmen und Energiesparlampen als Katalysatoren oder gar als Kontrastmittel in der Medizin: In kaum einem Bereich des modernen, technischen Lebens begegnet man den Seltenerd-Metallen nicht. Deshalb sind sie insbesondere für die Industriestaaten als Rohstoffe so unverzichtbar.

  • nicht radioaktiv:

Mit einer Ausnahme: Das Lanthanoid Promethium kommt nur in Form des β-strahlenden Pm-147 mit einer Halbwertszeit von rund 2,6 Jahren in der Natur vor – in kleinsten Mengen als Zerfallsprodukt von Uran in dessen Erzen. Das langlebigste (künstlich erzeugte) Promethium-Isotop ist Pm-145 mit einer Halbwertszeit von 17,7 Jahren. Somit sind alle Promethium-Isotope, die vielleicht einmal in der Materie, welche die Erde formen sollte, enthalten waren, in den viereinhalb Milliarden Jahren Erdgeschichte längst zerfallen.

  • Im Vergleich zu vielen bekannten Schwermetallen nur wenig bis gar nicht giftig:

Viele weitere Bestandteile der Erze (darunter finden sich nicht selten sogar radioaktive Elemente wie Uran und Thorium!), aus welchen sie gewonnen werden, hingegen schon. Deshalb ist der beim Abbau von Seltenerd-Metallen zurückbleibende Schlamm Umwelt und Gesundheit zuliebe sicher zu verwahren oder zu entsorgen.

  • Im Internet für jedermann erhältlich:

In den gängigen Online-Auktionshäusern werden immer wieder Seltenerd-Metalle angeboten. Aber Achtung: Längst nicht alles, was dort als „Seltenerd-Metall“ oder bezeichnet wird, ist auch ein solches – dazu zählen nur die oben genannten bzw. in der folgenden Tabelle aufgezählten Elemente!. In der Regel sind reine Seltenerd-Metalle unter einer reaktionsträgen Atmosphäre (meist Argon) in Glasphiolen eingeschlossen, damit sie nicht mit ihrer Umgebung reagieren können. Ein hochwertiger Schaukasten mit allen Lanthanoiden ausser Promethium ist meist für gute 350 Euro bzw. knapp 400 Franken zu haben.

Element Element-symbol Bedeutung des Namens Verwendung in der Technik (Beispiele)
Scandium Sc lat.: Scandia für Skandinavien, wo das erste Erz entdeckt wurde Stadionbeleuchtung, Brennstoffzellen, Laser
Yttrium Y nach Ytterby, dem Ort seines Erstfundes Leuchtdioden, Flachbildschirme, Laser
Lanthan La griech.: lanthanein = versteckt sein Ni-MH-Akkus, Katalysatoren
Cer Ce nach dem zur gleichen Zeit entdeckten Zwergplaneten Ceres Abgas-Katalysatoren, UV-Schutzgläser
Praseodym Pr griech.: prásinos = lauchgrün, didymos = doppelt : der lauchgrüne Zwilling Dauermagnete, Elektromotoren, Glasfarbstoff
Neodym Nd griech.: neos = neu, didymos = doppelt : der neue Zwilling Dauermagnete (z.B. in Windkraftanlagen), CD-Spieler
Promethium Pm nach Prometheus, einer Figur der griechischen Mythologie Leuchtziffern, Wärmebatterien in Raumfahrzeugen (da radioaktiv!)
Samarium Sm nach dem Mineral Samarskit, in welchem es erstmals nachgewiesen wurde Dauermagnete in elektronischen Kleingeräten, auch Raumfahrt
Europium Eu nach dem Kontinent Europa roter Leuchtfarbstoff: Leuchtdioden, Plasmabildschirme, Energiesparlampen
Gadolinium Gd nach dem Mineral Gadolinit Kontrastmittel für die Kernspin- tomographie, grüner Leuchtfarbstoff in Radarschirmen
Terbium Tb nach Ytterby, dem Ort des Erstfundes einer seltenen Erde Dauermagnete, Sonartechnik
Dysprosium Dy griech.: dysprosios = unzugänglich Dotierung von Kondensatoren, Dosimeter, Halogenlampen
Holmium Ho lat.: Holmia für Stockholm, die Hauptstadt Schwedens Laser
Erbium Er nach Ytterby, dem Ort des Erstfundes einer seltenen Erde Laser, Glasfaserkabel bzw. -verstärker
Thulium Tm nach Thule, der Bezeichnung für Skandinavien in der klassischen Antike Dotierung in der Röntgentechnik, Gamma-Strahlenquelle für die Werkstoff- prüfung
Ytterbium Yb nach Ytterby, dem Ort des Erstfundes einer seltenen Erde Kunststoff-Zahnfüllungen, Laser
Lutetium Lu lat.: Lutetia für Paris, die Hauptstadt Frankreichs Beta-Strahlenquelle: Positronen-Emissions-Tomografie

Warum sich die seltenen Erden chemisch so sehr ähneln

Die Seltenerd-Metalle gleichen einander in ihrer Chemie derart, dass selbst die Natur sie ständig miteinander verwechselt: Ein Seltenerd-Erz enthält stets mehrere verschiedene Metalle, deren Ionen ihre Plätze im Kristall wechselweise einnehmen, als gehörten sie allesamt zur selben Ionensorte. Wenn Chemiker versuchen, für solch einen Kristall eine chemische Formel aufzustellen, kommt so etwas herum wie für das schon erwähnte Mineral Gadolinit: (Ce,La,Nd,Y)2FeBe2Si2O10 . Es handelt sich dabei um ein Silikat, also ein Salz einer Kieselsäure, welches neben einem Eisen- und zwei Beryllium-Ionen zusätzlich zwei Seltenerdmetall-Ionen je Formeleinheit enthält. Innerhalb der runden Klammern ist die Auswahl derjenigen Metalle angegeben, aus welcher diese beiden Ionen stammen: Cer, Lanthan, Neodym und Yttrium. Welche beiden dieser Ionen man in einem beliebigen Ausschnitt des Kristalls, für welchen die Formel steht, jeweils antrifft, ist freilich dem Zufall überlassen.

Doch warum sind sich die Seltenerd-Metalle chemisch so ähnlich? Die Chemie eines Atoms, also seine Neigung zu Reaktionen sowie seine „Passform“ bei der Entstehung eines Ionenkristalls, wird vom Aufbau seiner Elektronenhülle bestimmt. Und der ist normalerweise von Element zu Element verschieden – einzig die Elemente, die im Periodensystem untereinander stehen (wie Scandium, Yttrium und Lanthan), ähneln sich ein Stück weit, da sich ihre Elektronenhüllen nur in der Anzahl besetzter Energieniveaus („Etagen“ im Elektronenhüllen-Haus) unterscheiden, nicht aber in der Besetzung des massgeblichen äussersten Niveaus.

Die Lanthanoiden unter den seltenen Erden haben alle miteinander eine einzigartige Stellung im Periodensystem inne, da sie die ersten Elemente mit Elektronen in einem zusätzlichen „Zwischengeschoss“ sind, dessen Elektronen-„Wohnungen“ die Chemiker als f-Orbitale bezeichnen. Das besetzte f-Zwischengeschoss der Lanthanoiden gehört dabei rein formal zur vierten „Etage“ des Elektronenhülle, obwohl es in der sechsten Zeile (Periode) des Periodensystems auftauchen und dementsprechend auch erst nach dem ersten Orbital der sechsten „Etage“ aufgefüllt werden.

Gemäss den Spielregeln der Chemie sind jedoch die Elektronen der äussersten Schale (die auch als „Valenzelektronen“ bezeichnet werden) für das Verhalten eines Atoms entscheidend – bei den Lanthanoiden also die drei Elektronen, welche den ersten drei Positionen in der sechsten Periode des Periodensystems entsprechen. Wie viele Elektronen darüber hinaus im f-Zwischengeschoss sind, ist hingegen ziemlich egal. So wird es niemanden wundern, dass alle Seltenerd-Metalle dreifach positiv geladene Ionen bilden, indem sie ihre drei Valenzelektronen abgeben und damit ihre Aussen-Etage vollkommen entleeren (einige bilden darüber hinaus auch zwei- oder vierfach positiv geladene Ionen, da sie ihre Elektronen noch anderweitig „energetisch günstig“ zu sortieren wissen).

Dieser besondere Aufbau der Elektronenhüllen der Lanthanoide hat noch einen weiteren einzigartigen Effekt zur Folge: Normalerweise sind Ionen der Elemente umso grösser, je mehr Elektronen in ihrer Hülle „Wohnungen“ bzw. Orbitale besetzen. Logisch, denn je mehr bewohnte Wohnungen man haben will, desto höher wird man das Haus bauen müssen.

Bei den Lanthanoiden wirkt sich der Einzug der Elektronen in die Orbitale des f-Zwischengeschosses jedoch nicht auf die Höhe des Hauses aus – gehört dieses Zwischengeschoss doch zur vierten Etage und nicht zur sechsten. Da mit der wachsenden Anzahl Elektronen jedoch auch die positive Ladung des Atomkerns zunimmt, steigt auch die Anziehungskraft, die der Kern auf seine Elektronenhülle ausübt – ohne dass diese durch zusätzliche Wohnungen und Etagen dicker würde. Und diese Anziehungskraft macht sich so stark bemerkbar, dass die Ionen der Lanthanoiden von links nach rechts im Periodensystem tatsächlich kleiner werden, anstatt wie bei allen anderen Elementen grösser! Dieser Effekt, den die Chemiker „Lanthanoidenkontraktion“ nennen, ist so stark, dass ein Dysprosium-Ion (das neunte Element in der Reihe der Lanthanoiden) ebenso klein ist wie ein Yttrium-Ion, dessen äusserste besetzte Etage die fünfte anstatt der sechsten ist!

 

Warum in den letzten Jahren so ein Aufstand um seltene Erden gemacht wurde

Ohne die seltenen Erden könnte es unsere High-Tech-Welt, wie sie zur Zeit aussieht, nicht geben. Das zeigt allein schon die oben gelistete Auswahl an technischen Anwendungen dieser einzigartigen Metalle. Ihre Gewinnung ist jedoch mit grossem Aufwand und Risiken für die Umwelt verbunden. Wohl deshalb leistet zu Beginn des 21. Jahrhunderts China weit über 90% der weltweiten Förderung der seltenen Erden – nennt es doch die weltweit grössten zusammenhängenden Vorkommen an Seltenerd-Erzen sein Eigen, welche etwa 30% der weltweiten Reserven ausmachen.

All jene Industriestaaten, die sich die Hände nicht in dieser Weise schmutzig machen wollen, sind damit weitestgehend auf die Einfuhr von seltenen Erden aus China angewiesen. Als die Chinesen 2010 entschieden, die Ausfuhr ihrer seltenen Erden zu beschränken, gerieten ihre Abnehmer somit gehörig ins Schwitzen – denn alternative Quellen waren auf die Schnelle nicht zur Hand. Die Begründung Chinas, die Beschränkung der Umwelt zuliebe einzuführen (Warum sollten wir uns für euch andere die Hände bzw. die Umwelt schmutzig machen?), erschien der Weltöffentlichkeit zudem als reichlich wenig glaubwürdig.

So schien es nur noch zwei Möglichkeiten zu geben einen Engpass in Sachen seltene Erden zu vermeiden: Die Ansiedelung von Hightech-Produktionsfirmen in China, um anstelle der Seltenerd-Erze die fertigen Produkte aus China auszuführen, oder eine Beschwerde bei der Welthandelsorganisation WTO – denn die Ausnutzung eines Rohstoff-Monopols um einheimischen Firmen Wettbewerbsvorteile zu verschaffen ist gemäss den Spielregeln der Weltwirtschaft nicht erlaubt.

Nachdem jene westlichen Firmen, die sich für eine Ansiedelung in China entschieden, auch dort von Benachteiligungen gegenüber den einheimischen Konkurrenten berichteten und eine geplante Erhöhung der Ausfuhrzölle für seltene Erden die Lage noch mehr zu verschärfen drohte, zogen die USA, gefolgt von der EU und Japan, am 13. März 2012 schliesslich vor das Gericht der WTO – und erhielten Recht. Doch obwohl dieser Schiedsspruch schon im Jahr 2013 erfolgte, sträubten die Chinesen sich noch bis Anfang 2015, ehe sie die Ausfuhr der seltenen Erden endgültig freigaben.

Die Ironie dabei: Tatsächlich wurde die Beschränkung der Ausfuhr von seltenen Erden auf rund 31.000 Tonnen pro Jahr nie ausgeschöpft – im Jahr 2013 wurden laut der FAZ gerade einmal 22.493 Tonnen exportiert, bis November 2014 waren es 24.886 Tonnen. Hat China die Ausfuhrbeschränkung also letztlich aufgehoben, weil sie keinen Nutzen mehr hatte?

Wenn der ganze Zwist um die chinesischen seltenen Erden für den Rest der Welt einen Nutzen hatte, dann wohl jenen, dass er diese wichtigen, der Allgemeinheit aber eher unbekannten Elemente populär machte und zum Nachdenken über andere Gewinnungsmöglichkeiten – vor allem durch Recycling von „High-Tech-Abfällen“ – angeregt hat und anregt.

Und welche seltene(n) Erde(n) sind euch in eurem Alltag schon begegnet?

Literatur:

[1] L.F.Trueb (2005). Die chemischen Elemente – Ein Streifzug durch das Periodensystem. Stuttgart: S.Hirzel Verlag

[2] Der einmal wirklich gute Wikipedia-Artikel zu den Seltenen Erden

Photovoltaik : Solarpanel im Detail

Wie funktioniert eine Solarzelle? Welche Stoffe können aus Sonnenlicht Strom erzeugen? Und inwieweit ist die Photovoltaik umweltverträglich?

Diese Geschichte ist Peter Lustig gewidmet, der mit seiner Sendung „Löwenzahn“ (und später auch „mittendrin“) zu meinen grossen Vorbildern gehört. In meiner Kindheit vor dem Internet-Zeitalter, als Wissen ausserhalb der Schule noch fast ausschliesslich in der Stadtbibliothek zu finden war, weckte „Löwenzahn“ nicht nur meine Begeisterung für die Wissenschaft(en) als solche, sondern legte ebenso einen Grundstein für mein Bestreben, gesammeltes Wissen verständlich und alltagsnah weiterzugeben.

Schon 1989 nutzte Peter Lustig die Sonnenkraft, um den joggenden Energie-Baron Rauch und seine Zuschauer gleichsam zu begeistern:

Was damals noch exotisch, wenn nicht gar futuristisch erschien, ist heutzutage für relativ kleines Geld bei jedem Elektronikhändler erhältlich: Solarmodule in allen Grössen, die aus Sonnenlicht Strom erzeugen. Auf unserem Balkon betreiben sie die abendliche Beleuchtung und einen Springbrunnen, während eine tragbare „Powerbank“ im Hosentaschenformat bei sonnigem Wetter einen endlos gefüllten Handy-Akku ermöglicht. Und auf dem Dach meines Elternhauses erzeugt ein richtiges kleines Photovoltaik-Kraftwerk seit vielen Jahren schon einen guten Teil des Stroms, den die zwei verbliebenen Hausbewohner verbrauchen. Ich mag mir vorstellen, dass Peter diese atemberaubende Entwicklung in den letzten 17 Jahren mit Begeisterung verfolgt hat – und weiter verfolgt hätte, wenn ihm mehr Zeit beschieden gewesen wäre.

In diesen 17 Jahren habe auch ich zahlreiche weitere Fragen und Antworten rund um die Photovoltaik gefunden und bin auf die Zukunft dieser Technik zur Nutzung der Sonne als schier unerschöpflicher Energiequelle nicht minder gespannt als damals.

Eines verrät Peter Lustig über seine solarbetriebenen Erfindungen allerdings nicht: Wie sie im Einzelnen funktionieren. Die spannenden Vorgänge, welche aus Sonnenenergie elektrischen Strom entstehen lassen, bilden jedoch die Grundlage für alle Gedanken um den Nutzen von Solarmodulen und Aussichten in die Zukunft. Deshalb erzählt dieser Artikel in erster Linie davon, wie Photovoltaik, die Gewinnung von Strom aus Sonnenlicht, im Einzelnen funktioniert und von den Stoffen, welche dafür verwendet werden. Nutzen und Gefahren für die Umwelt, welche diese Technik mit sich bringen, sollen dabei schliesslich nicht zu kurz kommen.

Wie entsteht in Solarzellen Strom?

Elektrischer Strom im Bändermodell

Elektrischer Strom ist ein Strom geladener Teilchen, im Hausgebrauch meist Elektronen, welcher durch ein leitendes Material strömt wie Wasser durch ein Flussbett. Strom erzeugen bedeutet also bewegliche Teilchen bereit zu stellen und sie an den Ort ihrer Bestimmung zu leiten.

Nun sind Elektronen für gewöhnlich fester Bestandteil von Atomen, die unsere Materie bilden. In Farben, Licht und Glanz – Warum die Welt uns bunt erscheint findet ihr die Beschreibung der Elektronenhülle einzelner Atome, in welcher die Elektronen wie auf Etagen eines Hochhauses ihre „Wohnungen“ bzw. Energieniveaus beziehen. Zwei Dinge habe ich dort jedoch verschwiegen, weil sie nicht für die Entstehung von Farben, aber umso mehr für die Entstehung von Strom von Belang sind.

  1. Wenn mehrere Atome zu einer Verbindung zusammenfinden, entsteht aus den einzelnen Elektronenhüllen-Häusern eine wahre Vielfalt von bezugsfertigen Energieniveaus – je mehr Atome beteiligt sind, desto mannigfaltiger geht es in der gemeinsamen Elektronenhülle zu. In besonders grossen Atom-Verbünden, wie den Metallen, aber auch in sogenannten Molekülkristallen wie einem Diamanten (ja, jeder Diamant ist ein einziges, riesengrosses Molekül!), kann man sich eine wahre Grossstadt aus Energieniveaus vorstellen.
  2. Wie eine Grossstadt mit ihren Stadtvierteln kann auch der bunte Haufen der Energieniveaus in Bereiche mit unterschiedlichen Eigenschaften eingeteilt werden. Die Chemiker nennen diese Bereiche „Bänder“ und sprechen vom Bändermodell, wenn sie damit die komplexen Verhältnisse in den Stoffen einfach beschreiben wollen.

Die unteren Geschosse einer Elektronenhüllen-Grossstadt werden darin zu einem Bereich zusammengefasst, in dem es gesittet zugeht, wie in der Geschichte zu den Farben beschrieben: Jedes Elektron hat seinen festen Platz in seinem Atom und kann mit Energiezufuhr allenfalls die Etage wechseln. Dieser Bereich wird „Valenzband“ genannt. In einem anderen Bereich werden die bezugsfertigen Energieniveaus jedoch so zahlreich und liegen so dicht beieinander und nebeneinander, dass Elektronen sich darin von einem Atom zum anderen bewegen können, wie durch eine mit Türen verbundene Zimmerflucht. Weil durch dieses Band demnach ein Strom fliessen kann, wird es „Leitungsband“ genannt.

Bändermodell : Leiter und Nichtleiter

Darstellung der Elektronenhülle von nichtleitenden und leitenden Stoffen im Bändermodell (nach: Energy Band Model (DE) by Cepheiden (Own work) [GFDL or CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons)

In den Stoffen, die aus Nichtmetallen bestehen – wie zum Beispiel Diamant, findet man das Leitungsband nun bei wesentlich höherer Energie als das Valenzband. Dazwischen liegt ein Bereich, in dem es keine besetzbaren Energieniveaus gibt – die sogenannte Bandlücke.  Die Elektronen solcher Stoffe besetzen allesamt Energieniveaus im Valenzband und haben unter normalen Umständen keine Möglichkeit, die Bandlücke zu überwinden und ins Leitungsband zu gelangen: Diamant und andere Nichtmetallverbindungen leiten keinen Strom – sie sind Nichtleiter.

In Metallen hingegen, die aus besonders dicht gepackten Atomen bestehen, sind die Energien von Valenz- und Leitungsband sich so ähnlich, dass sich die beiden Bänder mindestens teilweise überlappen, d.h. es gibt keine Bandlücke. So haben Elektronen im Valenzband gleichsam die Möglichkeit, sich entlang des Leitungsbandes durch das Metall zu bewegen: Metalle sind elektrische Leiter. Wenn man an ein Metall also eine Spannung – sprich einen Elektronenüberschuss an einem und einen Elektronenmangel am anderen Ende – anlegt, werden die beweglichen Elektronen ähnlich Wassermassen im Flussbett durch das Leitungsband geschoben.

Wie aus Licht Strom entstehen kann

Um jedoch aus Licht elektrischen Strom zu erzeugen, braucht man einen Stoff, dessen Bandlücke so schmal ist, dass Elektronen aus dem Valenzband sie durch Aufnahme von Lichtquanten (Photonen), überwinden und ins Leitungsband gelangen können. Solch ein Stoff wird Halbleiter genannt: Er leitet nur bei ausreichender Energiezufuhr Strom.

Halbleiter : Bändermodell

Darstellung der Elektronenhülle eines Halbleiters im Bändermodell: Durch Anregung, beispielsweise mittels Lichtenergie, können Elektronen (-) vom Valenz- ins Leitungsband wechseln. Die zurückbleibenden unbesetzten Stellen (Defektelektronen oder „Löcher“) können sich im Valenzband ebenso bewegen wie die Elektronen im Leitungsband. (nach: Energy Band Model (DE) by Cepheiden (Own work) [GFDL or CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons)

Wenn ein solcher Halbleiter erst einmal ins Leiten kommt, gelangen nicht nur Elektronen ins Leitungsband und werden dort beweglich, sondern auch die unbesetzt zurückbleibenden Energieniveaus im Valenzband ziehen die Elektronen der Nachbaratome gehörig an. Sobald ein Elektron dieser Anziehung nachgibt, hinterlässt es seinerseits ein anziehendes, unbesetztes Niveau ein Atom weiter. So können sich unbesetzte Niveaus, kurz „Löcher“, ebenso durch das Valenzband bewegen, wie die angeregten Elektronen durch das Leitungsband.

Der Trick, welcher die Stromerzeugung in Halbleitern ermöglicht, besteht darin, in das Netz der Halbleiteratome Fremdatome eines anderen Elements einzuschmuggeln, die etwas andere Energieniveaus als ihre Umgebung haben.  Solche „fremden“ Energieniveaus können innerhalb der Bandlücke des Halbleiters liegen und somit „Trittstufen“ für anzuregende Elektronen bilden. Das Einschmuggeln von Fremdatomen in Halbleiter nennt man Dotierung (englisch „doping“).

Liegen solche besetzten Energieniveaus im oberen Bereich der Bandlücke, also nahe dem Leitungsband, können die Elektronen daraus leicht ins Leitungsband übergehen – während das in der Bandlücke verbleibende Loch mangels Nachbarn unbeweglich bleibt. Da auf diese Weise mehr negativ geladene Elektronen als Löcher beweglich werden, spricht man von einer n-Dotierung.

Liegen unbesetzte fremde Energieniveaus hingegen im unteren Bereich der Bandlücke, nahe dem Valenzband, können Elektronen aus dem Valenzband leicht auf diese Niveaus angeregt werden, bleiben darin jedoch unbeweglich. Anders verhält es sich mit den so entstehenden Löchern, die gemeinsam mit allen „gewöhnlichen“ Löchern durch das Valenzband wandern können. Da ein Loch einer positiven Ladung entspricht, spricht man hier von einer p-Dotierung.

Halbleiter: n-Dotierung vs. p-Dotierung

Dotierung von Halbleitern: Durch das Einbringen von Fremdatomen in sonst gleichförmiges Halbleitermaterial entstehen zusätzliche Energieniveaus, die innerhalb der Bandlücke des ursprünglichen Halbleiters liegen. Ladungen, die darin zu liegen kommen, sind unbeweglich und können sich zu grossflächigen elektrischen Polen (–> Raumladungszone) aufsummieren. (nach: Energy Band Model (DE) by Cepheiden (Own work) [GFDL or CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons)

Legt man nun einen n-dotierten Halbleiter direkt auf einen p-dotierten Halbleiter, können die überschüssigen Elektronen aus dem n-Halbleiter ungehindert in den p-Halbleiter einwandern und dort Löcher füllen, ebenso wie überschüssige Löcher aus dem p-Halbleiter in den n-Halbleiter gelangen und gefüllt werden können. Die unbeweglichen Löcher und Elektronen innerhalb der Bandlücke, auch „Raumladungen“ genannt, bleiben jedoch wo sie sind. So entsteht auf der n-Seite alsbald ein Überschuss an unbeweglichen Löchern, also ein positiv geladener Bereich, während auf der p-Seite ein Überschuss an Elektronen entsteht, also ein negativ geladener Bereich – kurz gesagt: ein elektrischer Pluspol und ein elektrischer Minuspol wie in einer Batterie!

Alle weiteren beweglichen Ladungen, die innerhalb des Wirkungsbereichs dieser Pole – der Raumladungszone – entstehen oder durch Diffusion in diese hinein geraten, werden von den Polen angezogen und voneinander getrennt: Elektronen wandern in Richtung des Pluspols auf die n-Seite, Löcher in Richtung des Minuspols auf die p-Seite. Sind die Halbleiter, die solch eine Raumleitungszone teilen, Teil eines Stromkreises, können die sortierten Ladungen entlang dieses Kreises fliessen und genutzt werden.

Kurzum: Sonnenlicht-Quanten, die auf einen zweilagigen dotierten Halbleiter fallen können Elektronen über bzw. in die Bandlücke des Halbleitermaterials befördern und somit bewegliche Elektronen bzw. Löcher erzeugen. Wenn dabei eine Raumladungszone zwischen unterschiedlich geladenen, unbeweglichen Polen entsteht, können darin Elektronen und Löcher voneinander getrennt und genutzt werden. Der sonnenbeschienene Halbleiter wird damit zu einer schier endlos funktionierenden Batterie.

Welche Stoffe können das: Woraus bestehen Solarzellen?

Es wird euch wahrscheinlich wenig überraschen, dass unter den chemischen Elementen die Halbmetalle – jene Stoffe, die Eigenschaften von Metallen und Nichtmetallen in sich vereinen – auch als Halbleiter taugen. Denn die Anordnung ihres Valenz- und Leitungsbandes liegt irgendwo zwischen den typischen Anordnungen für Metalle und Nichtmetalle.

Halbmetalle

Halbmetalle: Die hier orange, gelb bzw. gelbgrün dargestellten Elemente haben (in mindestens einer ihrer Erscheinungsformen) teils Metall-, teils Nichtmetall-Eigenschaften. Dementsprechend weisen sie kleine Bandlücken auf, was sie zu Halbleitern macht.

Die meisten dieser Halbmetalle sind auf und in der Erde allerdings ziemlich selten zu finden. Die grosse Ausnahme bildet allerdings das Silicium: Dieser chemische Verwandte des Kohlenstoffs ist das dritthäufigste Element des Planeten Erde (nur Eisen und Sauerstoff sind häufiger). Es gibt kaum ein Gestein oder Sandkorn, das nicht Quarz – Siliciumdioxid – enthält, und die Silikate machen die mit Abstand grösste Gruppe unter den Mineralien aus. Gar 26% der Materie unserer Erdkruste setzen sich aus Silicium zusammen.

Da wundert es nicht, dass 92% der heute produzierten und verwendeten Solarzellen aus Silicium bestehen, denn anders als bei Elementen wie Gallium, Selen oder Tellur, die ebenfalls als Solarzellen-Material taugen, müssen wir uns nicht sorgen, dass das Silicium uns eines Tages ausgehen könnte.

Aus Quarzsand wird zunächst geschmolzenes Silicium gewonnen, welchem sehr kleine Mengen Bor (zur p-Dotierung) bzw. Phosphor (zur n-Dotierung) beigegeben. Aus der fertig aufbereiteten Schmelzen können somit bereits dotierte Silicium-Kristalle „gezüchtet“ werden. Diese Kristalle können in dünne Scheiben, sogenannte Wafer, gesägt werden, sodass möglichst viel Oberfläche dem Sonnenlicht ausgesetzt werden kann.

Elementares Silizium : (noch) Rohstoff Nr.1 für die Photovoltaik

Elementares Silicium: oben links: Polykristallines Silicium am Stück, unten links: polykristalliner Silicium-Wafer (Solarzellen erhalten ihre typische blaue Färbung erst durch eine Deckschicht), rechts: Silicium-Einkristall, der in monokristalline Wafer zersägt werden kann. (oben links und rechts: by Stahlkocher[GFDL or CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons, unten links: by Armin Kübelbeck (own wafer scanned on a Canon Pixma MP 800) [GFDL oder CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons

Ein funktionierendes Solarmodul enthält neben solchen Wafern eine zusätzliche Kontaktschicht zur Abnahme des erzeugten Stroms, welche bei heute betriebenen Solarzellen meist aus teurem weil seltenem Silber besteht. Kupfer und Aluminium erfüllen jedoch den gleichen Zweck, sodass es nun an den Herstellern ist, diese günstigeren Materialien zum Einsatz zu bringen.

Wie effektiv ist die Stromgewinnung mit Solarzellen?

Wenn eine Energieform in eine andere umgewandelt wird, so erklärt es die Energie höchstselbst in ihrem Brief an die Menschheit, wird aus einem Teil der ursprünglichen Energie praktisch immer Wärme, ob man das nun will oder nicht. Der prozentuale Anteil der Sonnenenergie, welcher nicht in Wärme, sondern in die angestrebte elektrische Energie umgewandelt werden kann, wird deshalb als Wirkungsgrad einer Solaranlage bezeichnet. Da ist selbstredend, dass Solarzellenhersteller einen möglichst hohen Wirkungsgrad für ihre Module anstreben.

Deswegen werden Solarzellen in verschiedenen Bauweisen entwickelt und hergestellt:

Wer sich die Mühe macht grosse Silicium-Einkristalle zu züchten und daraus Wafer zu schneiden, kann daraus monokristalline Zellen herstellen, die einen Wirkungsgrad von über 20% erreichen können. Das bedeutet, nur 20% der eingefangenen Sonnenenergie wird zu Strom, die übrigen 80% gehen als Wärme verloren.

Preiswerter sind polykristalline Zellen, die aus einem Verbund vieler Siliciumkristalle gesägt werden. Solche sind an ihrer an Eisblumen erinnernde Oberflächenstruktur gut zu erkennen. Sie erreichen jedoch nur einen Wirkungsgrad von 16-18,6%.

Darüber hinaus gibt es sogenannte Dünnschicht-Zellen, die durch Aufdampfen von Siliciumatomen auf eine Trägerfläche geschaffen werden. Solche Zellen finden vornehmlich in Kleinstgeräten, wie z.B. einem Solartaschenrechner, Verwendung. Denn solchen genügt ihr vergleichsweise geringer Wirkungsgrad von 5-7% bis 15% je nach Bauweise.

Eine Alternative zum Silicium stellen Module aus Cadmiumtellurid dar. Diese sind jedoch wegen ihres Gehalts an dem giftigen Schwermetall Cadmium umstritten und haben einen Wirkungsgrad von nur mehr 10%. Aus diesen Gründen werden solche Module in der Schweiz gar nicht erst eingesetzt.

Den wohl höchsten Wirkungsgrad haben aktuell aber wohl Galliumarsenid-Module mit bis zu 41,1%. Da ihre Hauptbestandteile Gallium und Arsen aber relativ selten vorkommen und letzteres zudem giftig ist, sind Module dieser Bauart nicht für den Alltagseinsatz geeignet. In der Raumfahrt hingegen, wo jedes Gramm an zu transportierendem Material Unsummen kostet, ist Galliumarsenid das Material der Wahl für die Solarmodule von Satelliten und Raumfahrzeugen.

Inwiefern belastet die Herstellung  von Solarmodulen die Umwelt?

Der Schmelzpunkt von Silicium liegt bei 1414°C, sodass zur Gewinnung von geschmolzenem Silicium Quarzsand mit Kohle im Lichtbogenofen auf Temperaturen darüber erhitzt werden muss. Um das so entstehende Rohsilicium zu reinigen, wird es bei 300°C mit Chlorwasserstoff (HCl) zu Trichlorsilan (auch bekannt als Silicochloroform oder TCS) (SiHCl3) umgesetzt.

Entstehung_TCS

Trichlorsilan wird schon ab 32°C gasförmig, sodass es sich leicht von den Chlorverbindungen von Verunreinigungen, die allesamt einen viel höheren Siedepunkt haben, trennen lässt. An glühenden Stäben aus reinstem Silicium kann aus dem Trichlorsilan das elementare Silicium wieder zurückgewonnen werden.

Abbau_TCS

Wer aus dem so entstehenden polykristallinen Silicium grosse Einkristalle für monokristalline Wafer gewinnen möchte, muss das Silicium noch einmal schmelzen um daraus die gewünschten Kristalle wachsen zu lassen.

Lohnt sich dieser Energieaufwand?

Die Herstellung von Silicium-Wafern verschlingt also eine ganze Menge Energie in Form von elektrischem Strom, mit welchem die verschiedenen Heizöfen und Maschinen betrieben werden. Da es sich empfiehlt für die Herstellung „umweltfreundlicher“ Solarzellen erneuerbare Energien zu verwenden, waren wasserkraftreiche Länder wie Norwegen und Brasilien lange Zeit führend in der Produktion von Rohsilicium, während heute China ganz vorne mit dabei ist.

Das Ergebnis ist jedoch die Mühe wert: Ein modernes Solarmodul braucht zwar circa zwei Jahre, um den für seine Herstellung verbrauchten Strom neu zu gewinnen, kann jedoch (von den Herstellern garantiert!) 20 bis 30 Jahre lang arbeiten. Damit können Solarmodule mindestens 10 mal mehr Strom erzeugen, als ihre Herstellung kostet!

Hinzu kommt, dass reines Silicium nicht nur für Solarmodule, sondern auch für Halbleiterbausteine in Computern gebraucht wird. Der ganze Aufwand lohnt sich also gleich doppelt. Und dazu muss dieses Silicium noch um ein Vielfaches reiner sein als das Solar-Silicium. Was also den hohen Ansprüchen der Chip-Hersteller nicht genügt, kann gut und gerne zur Herstellung von Solarzellen verwendet werden, ehe es auf dem Abfall landet.

Wie giftig ist die ganze Chemie dahinter?

Silicium selbst ist ein lebenswichtiges Spurenelement, das in fast allen Lebewesen einschliesslich des Menschen vorhanden ist. Sowohl elementares Silicium als auch Quarz, Kieselsäure und ihre Salze, die Silicate, sind somit fast völlig ungiftig.

Das bei der Gewinnung des Reinstsilicium zwischenzeitlich entstehende Trichlorsilan ist ebenfalls ungiftig, bezogen auf die Fähigkeit von Giften sich in Organismen oder der Umwelt anzureichern und Langzeitschäden zu verursachen. Dafür ist es äusserst hoch entzündlich und wirkt, ebenso wie Chlorwasserstoff, der mit Wasser Salzsäure bildet, stark ätzend. So müssen in Anlagen, die mit Trichlorsilan arbeiten, entsprechende Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden. Sind diese gegeben, ist der Umgang mit diesen Stoffen weitgehend sicher. Vor allem aber entstehen dabei keinerlei giftige Abfälle, wie sie beispielweise die Crux der Kernkraft sind!

Beim Einbau der Silicium-Bauteile in Solarmodule kamen bis in die jüngste Vergangenheit Silber und kleinere Mengen Blei zum Einsatz. Diese beiden Schwermetalle können inzwischen jedoch durch preiswerteres und unproblematischeres Kupfer bzw. Aluminium ersetzt werden.

Die Glasscheiben, die schlussendlich die Solarzellen vor Umwelteinflüssen schützen sollen, dürfen nach Möglichkeit kein Licht über den sichtbaren Bereich hinaus absorbieren (in Wie du dank UV-Filtern deine Ferien geniessen kannst könnt ihr nachlesen, dass „normales“ Glas durchaus nicht alles Licht durchlässt), sodass möglichst alles Licht die eigentlichen Solarzellen erreichen kann. Deshalb enthalten manche Solarzellen-Gläser das Halbmetall Antimon (Formelzeichen Sb), welches dem Glas die gewünschte Durchlässigkeit verleiht, wegen seiner chemischen Verwandtschaft zum Arsen aber nicht ganz unumstritten ist. Aus dem Glas austreten kann das Antimon aber nicht so leicht. Anfassen ist also durchaus erlaubt und ungefährlich. Erst wenn Solar-Gläser auf Deponien herumliegen, kann mit der Zeit Antimon ins Grundwasser gelangen.

Was wir tun können: Recycling

Der genannten Schwermetalle wegen und weil sich Solar-Silicium durchaus wiederverwenden lässt, sind Rücknahme und Recycling von Solarmodulen in der europäischen Union mittlerweile gesetzlich vorgeschrieben. Demnach sind Hersteller von Solarmodulen verpflichtet, mindestens 85% ihrer Module zurückzunehmen und zu recyceln. Auch die Schweiz orientiert sich an der WEEE-Direktive der EU. Hier organisiert die Stiftung SENS als Partner des europäischen Verbandes PV Cycle die Rücknahme der Photovoltaik-Module.

Für uns heisst das: Defekte Solarzellen bzw. Photovoltaik-Module gehören, ähnlich wie Elektronik-Schrott, an die dafür vorgesehenen Sammelstellen zurückgebracht!

Wie das Recycling im Einzelnen funktioniert, könnt ihr auf SolarContact nachlesen.

Zu guter Letzt: Wie sehr dient die Nutzung der Sonnenkraft dem Klimaschutz?

Besonders verlockend ist an der Photovoltaik, wie schon Peter Lustig wusste, dass die Gewinnung von Strom aus Sonnenstrahlen, die auf eine Halbmetallplatte fallen, so vollkommen ohne Erzeugung von ungeliebten Abgasen vonstattengeht. Tatsächlich muss aber auch jener „Dreck“ mit eingerechnet werden, welcher bei der Herstellung der Solarmodule anfällt.

Zu diesem Zweck wird für die verschiedenen Kraftwerkstypen der Ausstoss von CO2-Äquivalenten berechnet, der einen direkten Vergleich zwischen verschiedenen Wegen der Energiegewinnung möglich macht.

Nach dieser Rechnung wurden früher – wohl zu Peter Lustigs Zeiten – für eine Kilowattstunde (kWh) Photovoltaik-Strom 97g des Treibhausgases CO2 freigesetzt. Mit den heutigen Modulen kommt man hingegen nur mehr auf 42g CO2 je kWh.

Im Vergleich dazu erzeugt ein Gaskraftwerk 452g CO2 pro kWh, während ein Braunkohlekraftwerk sage und schreibe 1347g CO2 pro kWh in die Luft schleudert! Ähnlich „sauber“ wie Photovoltaik-Strom sind damit allenfalls der Strom aus Wind- und Wasserkraft sowie der Atomstrom (welcher jedoch mit den bekannten Umweltrisiken behaftet ist).

Im Mittel werden für den in Europa erzeugten und genutzten Strom zur Zeit 552g CO2 pro kWh freigesetzt. Da ist also noch einiges an Verbesserung durch die vermehrte Nutzung von Sonnenkraft, aber auch jener von Wind und Wasser, vorhanden!

Diese Zahlen und viele weitere interessante Fakten rund um Solarmodule hat das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) zum Nachlesen zusammengetragen.

Hier heisst es bis zur nächsten Geschichte jedoch erstmal „Abschalten“ – oder eure Gedanken in einen Kommentar fassen, zum Beispiel zu:

Welche Rolle spielen Photovoltaik bzw. Solarzellen in eurem Alltag?

Chemie beim Zahnarzt

Hallo und auf ein Neues! Ich bin Zahn Einssechs („16“), Kathis erster grosser Backenzahn oben rechts (aus Sicht aller anderen oben links), und ich darf euch heute endlich mein Versprechen einlösen und meine Geschichte fertig erzählen. Die ist nämlich so lang, dass ich die erste Hälfte im Dezember 2015 bei Maike auf Miss Declare geschildert habe.

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Die IUPAC hat den Nachweis der Existenz der chemischen Elemente 113, 115, 117 und 118 offiziell bestätigt. Diese Nachricht geistert dieser Tage durch die Presse – teilweise in höchst zweifelhafter Qualität. Die grosse Aufmerksamkeit, die diesen exotischen, von Menschenhand geschaffenen Elementen zuteil wird, mag daher rühren, dass solche Nachrichten selten sind: Zuletzt wurde vor 4 Jahren der Nachweis der Elemente 114 und 116 bestätigt. Entdeckt – besser: erschaffen wurden die vier jüngsten chemischen Elemente aber schon vor Jahren!

Das derzeit jüngste Element unseres Periodensystems hat die Ordnungszahl 117 und den vorläufigen Namen Ununseptium (lateinisch für einhundertsiebzehn). Tatsächlich wurde Element Nummer 118 früher nachgewiesen, schlichtweg weil seine Erschaffung einfacher war: Atome mit ungerader Ordnungs- bzw. Protonenzahl sind schwieriger zu erzeugen als Atome mit gerader Ordnungszahl). Nummer 117 wurde erstmals im „Joint Institute for Nuclear Research“ (JNIR) in Dubna, Russland, nachgewiesen und die Ergebnisse im Frühling 2010 veröffentlicht [1]. Das dazu notwendige Experiment ist allerdings von einem derart wahnwitzigen Umfang, dass Dutzende Wissenschaftler in mindestens 6 Forschungseinrichtungen rund um die Welt an seiner Realisierung beteiligt waren.

Und da Wissenschaftler nur das akzeptieren, was sich reproduzieren lässt, hat eine zweite, noch weltumfassendere Forschungsgemeinschaft den Nachweis von Nummer 117 im GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt, Deutschland, wiederholt und die Bestätigung der Ergebnisse aus Dubna 2014 veröffentlicht [2]. Trotzdem nimmt die IUPAC es mit der Überprüfung solcher Ergebnisse sehr genau, sodass sie nun erst, am 30.12.2015, offiziell grünes Licht gegeben hat um 117 und die anderen drei jüngsten Elemente zur endgültigen Benennung freizugeben.

Aber wie erzeugt und detektiert man heutzutage neue Elemente?

Wie Atomkerne entstehen

Atomkerne bestehen aus elektrisch positiv geladenen Protonen und elektrisch ungeladenen Neutronen. Diese beiden Sorten von Kernteilchen sind nahezu gleich schwer, sodass die im Periodensystem verzeichnete Masse eines Atomkerns in der Masseneinheit u nahezu der Anzahl aller seiner Kernteilchen entspricht. Die Anzahl Protonen von Atomen eines Elements ist immer gleich und entspricht der Ordnungszahl im Periodensystem. Ein Wasserstoff-Atom enthält also stets ein Proton: die Ordnungszahl von Wasserstoff ist 1.

Die Anzahl Neutronen ist hingegen nicht festgelegt. Häufig gibt es von einem Element verschiedene Atome mit verschiedenen Neutronenzahlen, wie zum Beispiel der „herkömmliche“ Wasserstoff, auch Protium genannt, dessen Kern aus einem einzigen Proton besteht, und die Kerne von Deuterium (ein Proton und ein Neutron) und Tritium (ein Proton und zwei Neutronen). Diese unterschiedlichen Vertreter eines Elements werden „Isotope“ genannt. Protium, Deuterium und Tritium sind also Isotope des Elements Wasserstoff.

 

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Wasserstoffisotope: Die „Nuklid-Schreibweise“ unter den bildlichen Darstellungen der Kerne gibt das Elementsymbol, links oben die Zahl aller Kernteilchen und links unten die Protonen- bzw. Ordnungszahl an. (By Johannes Schneider (Own work) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons

 

 

Wer sich die Darstellung von Atomkernen als Klumpen aus kleinen Kugeln ansieht, mag sich fragen, wie diese Teilchen eigentlich zusammen halten. Schliesslich stossen sich gleiche elektrische Ladungen doch ab, und ungeladene Teilchen sollten der Elektrizitätslehre nach keinen Grund haben einander anzuziehen. Gemäss der Kernphysik haben sie jedoch einen sehr guten Grund dazu: Zwischen Kernteilchen wirkt nämlich die sogenannte „starke Kernkraft“ überaus anziehend, sobald diese erst nah genug beieinander sind. Denn ihrer extrem kurzen Reichweite zum Trotz ist die starke Kernkraft um einiges stärker als die Abstossung zwischen den positiven Ladungen der Protonen in einem Kernklumpen!

Um Atomkerne zu schaffen muss man einzelne Kernteilchen oder kleine Atomkerne also so dicht zusammenbringen, dass die starke Kernkraft wirken kann. Wenn das gelingt, entsteht ein neuer, grösserer Atomkern: Das nennt man  Kernfusion.

Bei der Entstehung von leichten Kernen ( also kleineren Atomkernen als jenen des Elements Eisen) durch Kernfusion werden dabei gewaltige Mengen „Kernbindungsenergie“ frei (In Folge dessen ist die Masse des neuen Kerns kleiner als die Summe der Massen seiner einzelnen Bausteine – dieser Umstand ist als Massendefekt bekannt). Diese Energiemenge kann so gewaltig sein, dass sie die Sonne strahlen lässt, einer Wasserstoff-Fusions-Bombe ihre Sprengkraft verleiht und dass ihre friedliche Nutzung in Reaktoren ein Menschheitstraum ist. Dennoch muss niemand fürchten, dass Experimente zur Erschaffung neuer Elemente ihren Schöpfern gleich einer Wasserstoff-Bombe um die Ohren fliegen.

Atomkerne, die schwerer als Eisen sind, sind nämlich – anders als die leichten Kerne – weniger stabil als ihre losen Bausteine. Das heisst, die Erschaffung schwerer Atome „verbraucht“ Energie anstatt sie frei zu setzen, sodass die Masse des neuen Kerns grösser ist als die Summe der Massen seiner Bausteine (umgekehrt wird diese Energie beim radioaktiven Zerfall solch schwerer Kerne wieder frei und macht sich als Bewegungsenergie abgestrahlter α- und β-Teilchen, als γ-Strahlung oder Wärme bemerkbar).

 

Wie Kernteilchen zusammenfinden

Der simpelste Weg sehr schwere Atomkerne/Elemente zu machen besteht darin, vorhandene Kerne mit Neutronen zu beschiessen, denn wie makroskopische Geschosse sind bewegte Neutronen sehr energiereich und kommen beim Aufprall sehr, sehr nah an ihr Ziel heran. Ausserdem können Neutronen zu Protonen und Elektronen zerfallen (das entspricht einem β-Zerfall: ein aus einem Atomkern abgestrahltes Elektron wird auch β-Teilchen genannt), sodass aus einem Atomkern nach der Eingliederung eines oder mehrerer Neutronen ein nahezu gleich schwerer Kern mit höherer Ordnungszahl entstehen kann!

Das funktioniert im bekannten Universum unter vier Umständen, unter denen genug Neutronen-Geschosse aufgebracht werden, um schwere Kerne aufzubauen: Im Innern eines strahlenden Sterns innerhalb von Jahrmillionen, in einer Supernova, im Feuer einer Wasserstoff-Fusions-Bombe, und in Atom-Reaktoren. Aber wie man es dreht und wendet: Mit Neutronenbeschuss kommt man nur bis zum Element Fermium mit der Ordnungszahl 100.

Danach nimmt ein Problem überhand: Alle Atomkerne mit 84 oder mehr Protonen sind radioaktiv, d.h. sie zerfallen früher oder später durch Abgabe von α- oder β-Teilchen oder spalten sich ganz von selbst in zwei oder mehr grössere Bruchstücke. Und Elemente mit mehr als 100 Protonen zerfallen schneller, als dass sie durch Aufnahme einzelner Neutronen aufgebaut werden könnten.

Deshalb muss man die Atomkerne neuer Elemente in einem Schritt aus zwei grösseren Teilkernen zusammenschmelzen: Das kleinere Teilstück (ein Atomkern ohne Elektronenhülle ist das Extrem eines Ions, weshalb man diese Teilchen Schwer-Ionen nennt) wird beschleunigt und auf das grössere Teilstück geschossen. Wenn dabei ein genauer Treffer gelandet wird, entsteht aus beiden Teilen ein neuer Kern. Da zu dieser Form der Verschmelzung keine unfassbare Sternenhitze nötig ist, nennt man das Verfahren „kalte“ Schwerionenfusion. Ein dabei entstehender neuer Kern besteht in der Regel nur wenige Sekundenbruchteile, ehe er entweder α-Teilchen abgibt oder sich spontan spaltet.

Ziel solcher Experimente ist die Schaffung neuer Kerne, die α-Teilchen abgeben anstatt sich spontan zu spalten. Denn die Energie dieser α-Teilchen lässt sich vorab anhand von Kern-Modellen sehr genau berechnen, sodass die Registrierung von α-Teilchen mit der passenden Energie als Nachweis für die zeitweilige Existenz der neuen Kerne verwendet werden kann.

Die meisten neuen Kerne geben jedoch der spontanen Spaltung den Vorzug, weil sie bei der Schwerionenfusion etwas mehr Energie erhalten, als für die Verschmelzung notwendig ist. Mit viel Glück können sie dieses „Mehr“ an Energie jedoch rechtzeitig loswerden, indem sie einzelne Neutronen ab“strahlen“, bis der α-Zerfall schliesslich einsetzt. Allerdings funktioniert dieses „Abdampfen“ von Neutronen ziemlich selten: Schon bei der Schwerionenfusion von zwei Teilkernen zum Element Bohrium (Ordnungszahl 107) gelingt dies nur bei einem von 1000 Kernen [3]!

 

Was man für die Erschaffung eines neuen Elements braucht

Für ein Experiment zur Erschaffung eines neuen Elements braucht man also ein Zielmaterial (englisch „target“) aus Atomen eines ausreichend schweren Ausgangselements, passende schnelle Schwerionen und einen schnellen aber hochempfindlichen Detektor, der einzelne α-Teilchen aus dem Teilchensalat eines nuklearen Trommelfeuers filtern und registrieren kann.

Für den Nachweis von Element 117 wurden Atome des Elements Berkelium (Ordnungszahl 97) verwendet. Berkelium kann demnach in speziellen Atomreaktoren durch Beschuss mit Neutronen entstehen, wie im Hochfluss-Isotopen-Reaktor des Oak Ridge National Laboratory (ORNL) in Tennessee, USA. In diesem Reaktor werden Atome der Elemente Curium (Ordnungszahl 96) und Americium (Ordnungszahl 95) etwa 250 Tage lang „gebrütet“, bis aus ihnen Atome des Berkelium-Isotops mit der Masse 249 entstanden ist. Dieses Isotop ist so stabil (seine Halbwertszeit beträgt 330 Tage), dass man die Atome isolieren, von Tennessee nach Russland schaffen, zu „Targets“ verarbeiten und in Experimenten verwenden kann, bevor sie wieder zerfallen sind.

Da allerdings maschinengewehrgleicher Beschuss mit Schwerionen jedes Material alsbald in atomare Trümmer zerlegt, wurden Folien mit Berkelium auf ein Rad montiert, das sich später im Schwerionenstrahl drehte. So konnte das Trommelfeuer und damit seine Zerstörungskraft bei durchgehendem Beschuss auf mehrere Folien verteilt werden.

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Berkelium-Target-Rad, wie es im Labor der GSI Verwendung findet. Foto: Christoph Düllmann/GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung GmbH

 

Die Schwerionen-Geschosse waren Kerne des Calcium-Isotops der Masse 48. Die Herstellung solcher Ionen ist weniger kompliziert – um sie auf Touren zu bringen, braucht man jedoch einen Teilchenbeschleuniger für schwere Teilchen: Ein solcher ist das Schwerionen-Zyklotron U-400 im JINR Dubna. Der Ionenfluss, der damit auf das Target losgelassen wurde, betrug 7*1012 (7 Billionen) Ionen pro Sekunde!

Wer wissen möchte, wie so ein Beschleuniger aussieht, kann einen virtuellen Spaziergang durch das Beschleuniger-Labor in Dubna machen. Der eigentliche Teilchenbeschleuniger U-400 ist der flache gelbe Zylinder (sein Durchmesser beträgt 4 Meter), der in dem grossen blassblauen Kasten steckt. Die Ionen werden darin auf einer engen Spiralbahn beschleunigt und fliegen schliesslich durch die speichenartigen Fortsätze ihrem Ziel entgegen.

Das Experiment wurde schliesslich so aufgebaut, dass neu entstehende Kerne beim Aufprall der Schwerionen aus der Target-Folie geschleudert und durch luftleere Leitungen in den α-Teilchen-Detektor aus hochempfindlichen Halbleiter-Bausteinen sausen konnten, noch während sie aus dem sie begleitenden Trümmerstrom aussortiert wurden. Um das Sortieren zu erleichtern, wurde zudem der Schwerionenbeschuss nach jedem Signal, das auf die Freisetzung eines gewünschten Kerns aus dem Target hindeutete, für drei Minuten eingestellt.

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Der Transactiniden-Separator TASCA: Die hochmoderne Teilchen-Sortiermaschine der GSI. Verschiedene Teilchen werden im Flug durch Magnetfelder auf verschiedene Bahnen gelenkt. Damit wurde auch die Erschaffung von Element 117 erfolgreich wiederholt. (Foto: Gaby Otto/GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung GmbH)

 

Wie die Entdeckung eines neuen Elements abläuft

Die Bestrahlung eines Targets mit Schwerionen in diesem Experiment dauerte schliesslich 70 Tage mit insgesamt 79 Stunden Feuerpause. In dieser Zeit wurde bei ein vom Zerfall eines Atoms von Element 117 mit der Masse 293 stammendes α-Teilchen mit der berechneten Energie von 39MeV fünfmal beobachtet. In einem zweiten Experiment, das ebenfalls 70 Tage dauerte, wurde mit leicht veränderten Energie-Werten gearbeitet und einmal der Zerfall eines Atoms von 117 mit der Masse 294 beobachtet.

Zerfallsreihen_117

Zerfallsreihe der beiden registrierten Isotope von Element 117: Durch Schwerionenfusion entsteht das Isotop mit der Masse 297 (rot), welches 3 bzw. 4 Neutronen abgeben kann. Anschliessend verliert das jeweilige 117-Isotop mit jedem abgestrahlten Alphateilchen 2 Protonen und 2 Neutronen (gelbe Kette), bis ein Dubnium- bzw. Röntgenium-Atom (grün) übrig bleibt, das sich spontan in zwei Teile (F1 und F2) spaltet. Die Übereinstimmung zwischen den berechneten (schwarz) und gemessenen (hellblau) Abfolgen von Zerfallszeiten und Teilchenenergien dienen als Beweis dafür, dass die dargestellten Kernreaktionen – angefangen mit Element 117! – so stattgefunden haben. (Quelle: Oganessian et al.,2010 [1])

 

 

Nach der Ingangsetzung des Experiments haben die Wissenschaftler also jeweils 70 Tage in gespannter Erwartung ausgeharrt und auf ein Signal des Computers gehofft, das den Zerfall von Element 117 anzeigte. In 140 Tagen Beschuss rund um die Uhr ist das insgesamt sechsmal passiert! Damit haben die Wissenschaftler auf diese Weise die kurzzeitige Existenz von insgesamt bloss 6 Atomen von Element 117 nachweisen können! Neue Elemente finden erfordert also wochenlange, geduldige Warterei.

Die Veröffentlichung dieser Ergebnisse vom 7. April 2010 hat 33 Autoren, angeführt von Yu. Ts. Oganessian, die in mindestens sechs verschiedenen Forschungsinstituten an diesem Experiment und seinen Vorbereitungen mitgearbeitet haben.

Eine vergleichbare internationale Zusammenarbeit von 72 Wissenschaftlern in 16 Forschungszentren rund um den Globus führte bis Mai 2014 zu einem zweiten Nachweis von Element 117 unter ähnlichen Bedingungen am GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt, welcher für die offizielle Anerkennung der Entdeckung eines neuen Elements notwendig ist.

 

Warum zur Hölle macht man sowas?

Weil man es kann. Zudem: Die Halbwertszeit von Element 117 (14 ms für 293117 bzw. 78 ms für 294117) ist wie die seiner Nachbarn im Periodensystem so kurz, dass es höchst aufwändig ist, die Eigenschaften seiner Atome oder gar des Stoffs mit derzeit verfügbaren Mitteln eingehender zu untersuchen. Im Blog der GSI Darmstadt kann man nachlesen, wie es dabei zu und her geht: Element 114: Gas oder Metall?

Aber der Nachweis solcher Elemente bestätigt die Genauigkeit des Atomkern-Modells, anhand dessen neben den Energien abgestrahlter α-Teilchen viele weitere Eigenschaften unbekannter Elemente vorausberechnet werden können.

Diese Fähigkeit der Vorhersage von Eigenschaften ist übrigens alles andere als selbstverständlich. Sie erst macht die Modelle der Kernphysik, wie auch der Chemie zu einem unglaublich mächtigen und faszinierenden Instrument, mit welchem nicht nur Atome berechnet, sondern – und ganz besonders – auch Moleküle und Stoffe am Reissbrett entworfen und geschaffen werden können!

Und die Berechnungen zur Vorhersage der nächsten unbekannten Elemente lassen darauf schliessen, dass es im Bereich der Ordnungszahlen 114 bis 126 Elemente gibt, deren Atome ausreichend stabil sind, um sie – zumindest während ihres Vorbeiflugs – eingehender untersuchen und weitere Vorhersagen bestätigen zu können.

Die Kernphysiker ordnen schliesslich alle bekannten (und vorhergesagten) Atome in einer Tabelle an, die Nuklidkarte genannt wird. Diese „Karte“ zeigt stabile Atome in Form eines „Kontinents“ in einem Meer aus Einträgen für instabile Kerne an. Die Anhäufung der vermuteten Stabileren unter den Atomen der unbekannten Elemente wird deshalb häufig als „Insel der Stabilität“ abseits des Kontinents im „Meer der Instabilität“ bezeichnet.

791px-Isotopentabelle_Segre.svg

Nuklidkarte nach Segré: Man erkennt den langgestreckten „Kontinent“ aus stabilen, schwarz markierten Atomsorten (Nukliden) im Meer der instabilen, d.h. radioaktiven Nuklide. Die Liste unter „Zerfallstyp“ gibt an, welche Teilchen die zerfallenden Atome abgeben. „Fission“ ist der Fachbegriff für die Kernspaltung (hier: spontane Spaltung). Die Insel der Stabilität wird irgendwo oben rechts jenseits der gelben Spitze vermutet. (By Matt [CC BY-SA 3.0 or GFDL], via Wikimedia Commons)

 

Und die Kernphysiker suchen in diesem „Meer“ gleich einstigen Entdeckern auf den Weltmeeren nach ihrer legendären Insel. Wenngleich Kernphysiker dabei keine lukrativen atomaren Handelsrouten zwischen den Kernen entdecken mögen, hoffen sie gleich manch einem Weltumsegler, ihre Theorien vom Aufbau der Welt beweisen zu können. Ihr nächstes Ziel, Element Nummer 120, haben sie bis dato noch nicht erreicht.

 

Gemäss den Regeln der IUPAC dürfen chemische Elemente nach einer ihrer Eigenschaften, einem Mineral, einem/r bedeutenden Wissenschaftler/in oder einem Ort benannt werden. Welchen Namen würdet ihr Nummer 117 (und den drei anderen) geben?

 

Und wer noch mehr lesen möchte: Das Buch „Moderne Alchemie – Die Jagd nach den schwersten Elementen“ (Literatur [3]), verfasst von Wissenschaftlern der GSI in Darmstadt, erzählt verständlich und – wie ich finde – äusserst spannend von der Physik superschwerer Atomkerne und ihrer Erforschung.

 

Literatur:

[1] Oganessian,Yu.Ts. et al.(2010). Synthesis of a New Element with Atomic Number Z = 117. In: Physical Review Letters, 104, 9.April 2010, 142502.

[2] J. Khuyagbaatar et al. (2014)48Ca+249Bk Fusion Reaction Leading to Element Z=117: Long-Lived α-Decaying 270Db and Discovery of 266Lr. In: Physical Review Letters, 112, 1.Mai 2014, 172501.

[3] Münzenberg , G., Schädel, M. (1996). Moderne Alchemie – Die Jagd nach den schwersten Elementen. Wiesbaden: Vieweg (Facetten).

 

Morgen kommt der Weihnachtsmann….Okay. Eigentlich ist es erst in 18 Tagen soweit. Aber heute, am 6. Dezember, ist mir der Nikolaus – oder Samichlaus (oder doch der Weihnachtsmann?) – schon über den Weg gelaufen…in ungewöhnlich kleiner Gestalt:

Kinesin animiert

Da spaziert doch tatsächlich ein Molekül(!) in aller Ruhe einen mikroskopischen Schlauch entlang – und schleppt einen Riesensack voller Geschenke hinter sich her! Und die Diskussionen, worum es sich bei diesem Weihnachtsmann a miniature wirklich handelt, schlagen im weltweiten Netz hohe Wellen.

Adventskränzchen 2019
Dieser Beitrag ist Teil des Adventskränzchen 2019:
Das Thema des Tages ist, wie sollte es anders sein, „Nikolaus“.
Weitere Beiträge zum Tagesthema findet ihr hier:
http://cosmic-blue.jimdofree.com
http://imaginary-lights.net

In mir hat der Anblick des molekularen Weihnachtsmanns (und ich konnte mich kaum mehr davon losreissen) vor allem wachgerufen, weshalb ich im Laufe meiner Studienzeit der Biochemie verfallen bin: Die vielfältigen und zuweilen schier unglaublichen Funktionsmöglichkeiten von Biomolekülen sind einfach atemberaubend. Beflügelt von solchen Erinnerungen war dieser kleine Weihnachtsmann nach einem eingehenden Blick ins Biochemie-Buch [1] auch schnell identifiziert:

Die Identität des molekularen Weihnachtsmanns

Bei dem spazierenden lachsfarbenen Gebilde handelt es sich um ein sogenanntes Motorprotein namens Kinesin, also eine lange Kette aneinander gebundener Aminosäuren, die zu einer ganz bestimmten Form zusammengelegt, -gezwirbelt und -geknäuelt ist – etwa wie ein Luftballon-Tier, das aus einem schlauchförmigen Ballon geknotet wird. Streng genommen besteht das Kinesin sogar aus zwei solcher Ketten, die miteinander verdrillt sind (wenn man den langen, aufrechten Schaft genau ansieht, kann man die zwei Stränge einer Doppelspirale erkennen).

Ein Kinesin-Molekül ist natürlich nicht lachsfarben. Vielmehr zeigt die Animation ein Modell, das sich bestmöglich von seinem grünen Hintergrund abheben soll. Die Gestalter der Animation haben die Farben also bewusst komplementär gewählt…und dabei zufällig eine weihnachtliche Ader bewiesen.

Die hellgrüne „Strasse“, die das Kinesin entlangschreitet, ist ein Mikrotubulus, eine aus zahllosen Exemplaren des Proteins Tubulin zusammengesetzte molekulare Röhre. Die einzelnen rundlichen Tubuline, die sich wie Pflastersteine aneinanderreihen, sind in der Animation gut zu erkennen. Das Kinesin und seine Mikrotubulus-Strasse sind so geschaffen, dass dieses Motor-Protein nur vom Zellinneren in Richtung Zell-Aussenhaut laufen kann.

Nur so kann sich Kinesin nämlich als anständiger Weihnachtsmann betätigen: Es transportiert seinen Sack voller Geschenke, die in den Organellen im Zellinneren hergestellt worden sind, stets zur äusseren Zellmembran, wo sie hinausgeschafft und auf ihre weitere Reise zu ihren hoch erfreuten Empfängern geschickt werden können.

Der Geschenke-Sack wird in dieser Animation als grosse Kugel aus wogenden, dunkelgrünen Stoppeln dargestellt. Es handelt sich um eine geschlossene Blase (die Zellbiologen sagen Vesikel) aus Zellmembran, die sich ihrerseits aus unzähligen Molekülen, den Membranlipiden, zusammensetzt. Jedes dunkelgrüne Härchen ist ein solches längliches Lipid-Molekül. Und wie es sich für eine anständige Zellmembran gehört, stecken zwischen all den Lipiden ab und zu lachsfarben dargestellte Membran-Proteine, die der Membran zur Durchlässigkeit für Nährstoffe und Signale verleihen.

Das eigentlich faszinierende an dieser Darstellung ist in meinen jedoch das ständige Wogen der Moleküle. Denn anders als all die starren Zeichnungen in Biologie- und Biochemie-Büchern vermuten lassen, ist eine Zellmembran alles andere als ein starres Gebilde. Stattdessen sind ihre Bausteine ständig in Bewegung, was die Bestandteile einer Zelle zu einer ziemlich dynamischen, geradezu fliessenden Gemeinschaft macht.

Dass der gewaltige, mit Molekülen vollgepackte Sack irgendwie hinter dem Kinesin her zu schweben scheint, ist all den Kleinstmolekülen in seiner Umgebung zu verdanken, die die Animation nicht zeigt. Die meisten dieser Kleinstmoleküle sind Wasser-Moleküle, dazu kommen Ionen und verschiedene allgegenwärtige Verbindungen, die den scheinbar leeren Raum im Bild vollkommen ausfüllen. Was immer sich in der Zelle bewegt, schwimmt praktisch durch ihr Innenleben. Und wer schon einmal im Schwimmbad war weiss, wie sehr der Auftrieb der Schwerkraft entgegenwirken kann.

Wie kann ein Molekül laufen?!

Der Spaziergang des Kinesins auf seinem Mikrotubulus wirkt wohl deshalb so geheimnisvoll, weil die Animation nicht zeigt, wie es seinen Treibstoff erhält. Denn jeder Motor, auch ein molekularer, braucht nunmal seinen Treibstoff, sonst bewegt sich gar nichts. Und der Treibstoff für laufende Moleküle ist chemische Energie, die in lebenden Zellen in dem energiereichen Molekül Adenosintriphosphat (kurz ATP) gespeichert und transportiert wird.

Jeder „Fuss“ des Kinesins hat deshalb eine Bindestelle für ATP. Vor Beginn seiner Arbeit sind an diesen Bindungsstellen „entleerte“ Versionen des ATPs, genannt Adenosindiphosphat (ADP) gebunden. Ein gebundenes ADP sorgt dafür, dass der Fuss eines frei schwimmenden Kinesin-Moleküls, sobald er in die Nähe eines Mikrotubulus‘ gerät, locker daran haften bleibt – ähnlich wie ein Magnetstiefel, mit welchen Star-Trek-Helden bei Schwerelosigkeit über die Aussenhülle ihres Raumschiffes stapfen können. Sobald das geschieht, kann das ADP aus der Bindungsstelle entfernt und durch ein frisches, energiereiches ATP ersetzt werden.

Die Bindung des ATP sorgt für zwei Dinge: Zum Einen wird die Haftung des bereits platzierten Fusses am Mikrotubulus verstärkt. Zum Anderen geht mit dem Austausch von ADP gegen ATP eine Verschiebung der Position der einzelnen Molekülgruppen des Proteins einher. Dies ist möglich, weil einzelne Atomgruppen stets um chemische Bindungen herum gedreht werden können (wer schon einmal ein Molekülmodell zum Zusammenstecken in der Hand hatte: Die Drehbarkeit der Bauelemente um die Bindungsachsen ist in der Regel realistisch!).

Im Fall des Kinesins besteht die Positionsverschiebung darin, dass das zunächst nach vorn abgespreizte Beinchen des Proteins, „neck linker“ genannt, eng an den zugehörigen Fuss angelegt wird. Da der Fuss jedoch fest am Mikrotubulus verankert ist, zieht das Molekül nicht etwa den Fuss zurück, sondern das Molekül wird unweigerlich an den Fuss gezogen. Der zweite, immernoch mit ADP bestückte Fuss wird durch diese Bewegung nach vorn geschleudert und trifft dort, von seinem eigenen neck linker dirigiert, am Mikrotubulus Halt.

Während der zweite Fuss am Mikrotubulus Halt findet, wird das ATP am ersten Fuss gespalten, wobei ADP und ein Phosphat-Anion (das Anion der aus der anorganischen Chemie bekannten Phosporsäure, oft mit dem Kürzel Pa oder Pi (für „anorganisch“ bzw. „inorganic“) bezeichnet) entstehen. Mit der Abgabe des Phosphat-Anions löst sich der erste Fuss samt ADP vom Mikrotubulus, während das ADP im zweiten Fuss gegen ATP ausgetauscht wird, welches dessen Bindung festigt und den nächsten Schritt antreibt.

Eine schematische Animation dieser Schrittfolge mitsamt dem dafür nötigen Treibstoff gibt es als Beiwerk zu einem grossen Lehrbuch über Zellbiologie [2]:

Die Koordination der beiden Haft-Füsse ist dabei präzise genug, dass ein Kinesin-Molekül im Mittel etwa 100 Schritte schafft, bevor beide Füsse einmal gleichzeitig die Bodenhaftung verlieren und das Protein samt seiner Last von seinem Mikrotubulus abdriften kann.

Wie schnell läuft dieser Weihnachtsmann?

Entsprechend seiner Dimensionen – der kleine Weihnachtsmann misst wie er da läuft etwa 50 Nanometer (Milliardstel Meter!) an Höhe [2] – beträgt die Schrittweite des Kinesins im Mittel rund 8 Nanometer[1]. Zum Vergleich: die Wellenlänge von sichtbarem Licht beträgt 390 bis 780 Nanometer, der Durchmesser eines Atoms in einem organischen Molekül wie diesem liegt in der Grössenordnung von 0,1 Nanometern.

Die Physik schreibt vor, dass man Dinge, die kleiner sind als die Wellenlänge des Lichts, auf herkömmliche Weise nicht sehen kann. Trotzdem können Wissenschaftler Kinesin und andere Proteine direkt beobachten. Dazu verwenden sie entweder ein Elektronenmikroskop (die Wellenlänge von Elektronen ist wesentlich kürzer als die des Lichts und kann somit wesentlich kleinere Dinge sichtbar machen!), wofür die Proteine allerdings „eingefroren“ werden müssen, oder sie beobachten den Geschenke-Sack, der sehr viel grösser ist als der eigentliche molekulare Weihnachtsmann.

Mit der zweiten Methode kann man denn auch zuschauen, wie Membran-Säcke oder andere Lasten mit Hilfe von Kinesin einen Mikrotubulus entlang wandern. Eifrige Protokollanten haben dabei festgehalten, dass ein Kinesin-Molekül im Mittel rund 640 Nanometer in der Sekunde ablaufen kann – das entspricht einer Wellenlänge von orangem Licht oder über 6000 Atomen.

Allerdings ist der Schritt des molekularen Weihnachtsmannes längst nicht so stetig und erhaben wie in der Animation dargestellt. Vielmehr gleicht der Gang des Kinesins einem unsteten Schaufensterbummel: Immer wieder bleibt es für willkürliche Zeitspannen stehen oder gerät gar ins Hinken, wenn seine Füsse und „neck linker“ nicht vollkommen symmetrisch gebaut sind. Wenn man die Strecke, die ein Kinesin-Molekül abläuft, also über der dafür benötigten Zeit in ein Diagramm einträgt, erhält man an Stelle einer schönen Gerade, wie die Animation sie vorgibt, einen treppenartigen Kurvenverlauf (in der englischen Ausgabe von Scienceblogs finden sich solche Original-Diagramme in einem detaillierten Beitrag zur Bewegungsgeschwindigkeit des Kinesins ).

Dieser unstete Gang rührt daher, dass für jeden Schritt ein ATP-Molekül mit einem Fuss des Kinesins reagieren muss. Und es obliegt allein der Wahrscheinlichkeitsrechnung, in welchen Zeitabständen eines der ATP-Moleküle, die frei in der Zelle herumschwimmen, direkt am Fuss vorbeikommt und reagieren kann. Wie bei allen chemischen Prozessen können deshalb selbst die fleissigsten Beobachter nur im Mittel angeben, wie schnell eine Reaktion wie der Gang des Kinesins abläuft.

Was für Geschenke bringt der molekulare Weihnachtsmann?

„Sieht so das Glück aus?“ titelt die Süddeutsche Zeitung in ihrem Beitrag zur Animation, in dessen Rahmen der kleine Weihnachtsmann mir auf Facebook erstmals begegnet ist. Der Titel spielt auf Endorphine als möglichen Inhalt des Membran-Sacks an, also molekulare Wohlfühl-Boten, die als körpereigene Opioide auf das Nervensystem wirken. Und zumindest dieser Teil der ursprünglich auf Twitter verbreiteten Bildbeschreibung ist nicht falsch.

Endorphine sind nämlich sogenannte Neuropeptide, das heisst „Miniatur-Proteine“, deren Ketten nur wenige Dutzend Aminosäuren lang sind und als Signalstoffe an Rezeptoren von Nervenzellen binnen können. Solch kleine Peptide sind zu kurz, als dass sie direkt nach ihrer Herstellung direkt mit einem Adress-Schild „nach draussen“ versehen werden könnten. Deshalb werden sie in der Zelle gemeinsam mit anderen Peptiden in einer gemeinsamen, längeren Kette hergestellt, adressiert und in Membran-Blasen verpackt.

Während der Kinesin-Weihnachtsmann seinen vollen Sack der Zell-Aussenmembran entgegenschleppt, können mit im Sack eingesperrte fleissige Weihnachtselfen-Enzyme die langen Protein-Ketten in Endorphine und andere kurze Peptide zerschneiden. Am Ziel angekommen wird der Membran-Sack schliesslich in die Zellmembran eingefügt, wobei der Inhalt ausserhalb der Zelle „ausgekippt“ wird.

Es ist also durchaus möglich, dass der animierte molekulare Weihnachtsmann genau das tut, was ein anständiger Weihnachtsmann tun sollte: Geschenke bringen, die glücklich machen.

Ebenso gut könnte er andere Neurotransmitter oder Hormone durch seine Zelle schleppen, oder Bausteine, die zur Zellteilung benötigt werden, an ihren Bestimmungsort bringen – je nachdem, in welchen Zusammenhang man das Bild einfügt.

Warum handelt es sich tatsächlich um Kinesin?

In dem Animationsvideo, aus welchem das Bild des molekularen Weihnachtsmanns stammt, wird erläutert, dass es sich um ein Motor-Protein handelt, das sich an Mikrotubuli entlang bewegt.

Doch wo es einen Weihnachtsmann gibt, ist auch der Grinch nicht weit. Das gilt auch für das Innenleben menschlicher Zellen. Der zelluläre Grinch ist ebenfalls ein Motor-Protein. Er heisst Dynein und schleppt seine Geschenke-Säcke in die dem Kinesin entgegengesetzte Richtung die Mikrotubuli entlang: Vom Zelläusseren nach innen. Zu erkennen ist dieses Protein an seiner gedrungenen Gestalt ohne den langen „Schaft“ des Kinesins.

Das in dem ursprünglichen Tweet, welcher zum Beitrag in der Süddeutschen Zeitung führte, erwähnte Myosin ist zwar besser als Muskelbestandteil und -motor bekannt, kommt in einer Variante aber auch zum Lastentransport zum Einsatz. Anders als Kinesin und Dynein bewegen sich diese Myosin-Moleküle jedoch an Aktin-Filamenten entlang, feinen Fasern aus dem Protein Aktin. Im Gegensatz zu Mikrotubuli mit einem Aussendurchmesser von 30 Nanometern sind Aktin-Filamente mit nur 5 Nanometern im Durchmesser wesentlich schmaler[1]. Dafür hat das Myosin-Molekül merklich grössere Füsse als Kinesin [2], sodass die Grössenverhältnisse in einer Animation von Myosin auf Aktin deutlich anders ausfallen müssten als beim gezeigten Kinesin auf einem Mikrotubulus, der tatsächlich etwa halb so dick scheint, wie unser Weihnachtsmann hoch ist.

Alle drei Motor-Proteine spielen tragende Rollen in einem Video aus dem Hoogenraad Lab der Universität Utrecht (in Englisch), in welchem ein Kinesin-Molekül namens „John“ seinen molekularen Geschenkesack ganz im Sinne eines guten Modells durch die Strassen von Utrecht schleift. Auf seinem Weg treten auch der „Grinch“ Dynein und Myosin-Moleküle in Erscheinung. Letztere sind für den Last-Transport auf Aktinfilamenten zuständig, die wie Seitengassen von Mikrotubuli abzweigen:

Zum guten Schluss gibt es den Weihnachtsmann noch einmal musikalisch und in grösserem Zusammenhang:

Lasst euch von den Wundern des Lebens verzaubern und denkt an die kleinen Weihnachtsmänner in euren Zellen, wenn ihr die kommenden Feiertage geniesst. Ohne ihre Geschenke würden wir uns längst nicht so wohl fühlen!

Und ist euch der molekulare Weihnachtsmann auch schon begegnet?

Literatur: 

[1] J.M. Berg, John L.Tymoczko, L.Stryer: Biochemie. Spektrum Akademischer Verlag GmbH, Heidelberg, Berlin 2003

[2] B.Alberts, A.Johnson, J.Lewis, M.Raff, K.Roberts, P.Walter: Molekularbiologie der Zelle. Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 2004

Der Weihnachtsstern : Himmelsphänomen oder Fantasieprodukt?

Als Beitrag zum Blogger-Adventskalender im Forum auf meinbloggerforum.de gibt es heute eine kleine vorweihnachtliche Geschichte…

Stern über Bethlehem, zeig uns den Weg,
Führ uns zur Krippe hin, zeig, wo sie steht,
Leuchte du uns voran, bis wir dort sind,
Stern über Bethlehem, führ uns zum Kind…

Sarah sang leise vor sich hin, während sie eiligen Schrittes den langen Korridor entlang lief, darum bemüht mit ihrem Onkel Schritt zu halten. ‚Heute finde ich den Weihnachtsstern‘, dachte sie voller Vorfreude. Onkel Balthasar war Astronom in einer grossen Sternwarte, und heute hatte Sarah ihn dorthin begleiten dürfen, um das grosse Teleskop zu sehen und die Himmelsforscher bei ihrer Arbeit zu beobachten. Und um den Weihnachtsstern zu finden. Genauer gesagt, um heraus zu finden, was den Weihnachtsstern, den „Stern von Bethlehem“, so besonders machte.

Die Himmelsforscher waren nämlich furchtbar kluge Leute, die mehr über Sterne wussten als jeder andere. Schliesslich hatten sie all diese kompliziert aussehenden Instrumente und Computer, die Sarah nun vor sich sah, als die grosse Tür zum Kontrollraum sich vor ihnen öffnete. Rings umher blinkte und funkelte es von unzähligen Anzeigen und Armaturen. Und in der Mitte, gleich gegenüber der Tür, gewährte eine grosse Glasscheibe den Blick auf das grosse Teleskop in seiner Kuppelhalle.

Während Sarah sich mit staunenden Augen umsah, bemerkte sie kaum, wie der Onkel sie behutsam durch den Türrahmen in den Raum hinein schob. Zwei Männer wandten sich ihnen auf ihren Drehstühlen von den Armaturen her zu und sehen Onkel Balthasar und Sarah freundlich an.

„Das sind meine Kollegen Kaspar Kälin und Melchior Moretti“, stellte der Onkel sie vor, und beide nickten ihnen zu.

„Und du bist bestimmt Sarah, von welcher uns dein Onkel schon so viel erzählt hat.“

Kurz sah Sarah zu ihrem Onkel empor, ehe sie den beiden aufgeregt zunickte und grüsste. Wäre sie nur nicht so klein! Dann müsste sie nicht so angestrengt zu den grossen Kerlen hinaufschauen. Aber das war eben die Welt der Neunjährigen. Fast alles in der Welt war ein kleines Stück zu gross. Und gross waren nicht nur die Astronomen und ihre blinkenden Armaturen, sondern vor allem das Teleskop hinter der Glasscheibe.

„Wow“, entfuhr es Sarah, als ihre Füsse sie wie von selbst auf das Fenster zu trugen. „Damit schaut ihr jede Nacht in den Himmel? Damit muss man ja eine Menge sehen können…Da kennt ihr bestimmt jeden Stern und wisst alles über sie!“

„Sagen wir, ziemlich viel“, erklang Kaspars Stimme hinter ihr, und Sarah konnte ihn geradezu schmunzeln hören. Der sollte mal nicht so bescheiden tun.

„Was denn zum Beispiel?“, fragte Sarah herausfordernd, noch während sie sich umwandte.

„Was weisst du denn schon über die Sterne?“, gab Kaspar die Frage ruhig zurück, „Weisst du, warum sie am Himmel leuchten?“

„Na klar“, antwortete Sarah ohne Zögern. „Die Sterne sind superriesengrosse, wahnsinnig heisse Gaskugeln, die wie Feuer leuchten! Onkel Balthasar sagt, tief innen drin in einem Stern werden kleine Atome zu Grösseren zusammengeschmolzen, was das Feuer in Gang hält. Aber sie sind ganz, ganz weit weg, sodass wir sie nur als ganz kleine Punkte am Himmel sehen und nicht merken, dass sie heiss sind.“

Noch während Kaspar nicht ohne Erstaunen zu ihr hinabsah und nickte, kam Sarah ein Gedanke, der sie anfügen liess: „Habt ihr das Zusammenschmelzen in eurem Riesenteleskop gesehen?“

Kaspar mass den Onkel mit einem vielsagenden Blick und sah dann zum Teleskop hinüber. „Nein, so stark ist nicht einmal unser Teleskop. Selbst in die Sonne können wir damit nicht so genau hinein schauen. Aber die Sterne verraten uns trotzdem eine Menge über die Atome, aus denen sie bestehen.“

Nun machte Sarah grosse Augen. „Wie denn das?“

Der andere Himmelsforscher mit Namen Melchior schaltete sich ein. „Hast du schon einmal ein Prisma gesehen? Einen regelmässig geschliffenen Glasgegenstand, der das Licht in Regenbogenfarben zerlegt?“

Sarah nickt eifrig. Bei Onkel Balthasar hatte sie einmal solch ein Prisma gefunden und mit grosser Freude Regenbögen aus jedem Lampenschein gemacht.

Und Melchior fährt fort: „So eine Art Prisma können wir auch in das Teleskop einbauen. Wenn wir es dann auf einen Stern richten, sehen wir das Sternenlicht nicht mehr weisslich, sondern in all seine Farben zerlegt – als Regenbogen. Und das sieht dann so aus.“ Damit deutete er auf einen Bildschirm, welcher nun eine bunte Regenbogen-Grafik zeigte:

 

Lichtspektrum mit Fraunhofer-Linien

 

„So schön!“, ruft Sarah aus und betrachtet aufmerksam das Bild. „Nur schade, dass der Bildschirm irgendwie kaputt ist. Da sind ja überall schwarze Linien drauf!“

Melchior lachte leise, während er sich von hinten über sie beugte. „Der Bildschirm ist in bester Ordnung. Diese Linien gehören zu dem Bild – man nennt es ein Spektrum des Sternenlichts – und sie sind das, was für uns Himmelsforscher so spannend ist. Überall, wo eine schwarze Linie auftaucht, fehlt nämlich die entsprechende Regenbogenfarbe.“

„Die Farben fehlen? Wo sind sie den weggekommen? Hat irgendwas sie aufgefressen?“

„Hm…so könnte man es sagen“, erwidert Melchior. „Die Lichtfresser, die hier am Werk sind, sind die Atome des Sterns. Jede Sorte von Atomen ist nämlich auf seine ganz eigene Weise gebaut und kann Licht in ganz bestimmten Farben schlucken.“

Sarah dachte ein Weilchen scharf nach, ehe sie langsam nickte. Onkel Balthasar hatte ihr einmal von den Atomhüllen-Häusern erzählt, in welchen die Elektronen mit Hilfe der Lichtenergie zwischen den Etagen Aufzug fahren. Nur wenn ein Elektron die passende Energieportion erhält, kann es ein höher gelegenes Stockwerk erreichen und „schluckt“ dabei das Licht.

„Dann entsteht also jede schwarze Linie, weil es Elektronen gibt, die genau die dortige Farbe schlucken?“

„So ist es“, bestätigt Melchior. „Und weil wir wissen, in welchen Atomsorten es welche Etagen-Abstände gibt, verraten uns die schwarzen Linien, welche Sorten von Atomen zwischen uns und dem Ursprung des Lichtes sind.“

„Aber Onkel Balthasar sagt, im Weltraum ist gar nichts, zumindest fast!“, wendet Sarah ein.

„Deswegen funktioniert der Trick mit den Linien ja so wunderbar. Das Licht eines Sterns kommt tief aus seinem Inneren. Das heisst, es muss an den Atomen seiner Aussenschicht vorbei, wenn es nach draussen strahlt. Dabei werden bestimmte Farben geschluckt, während das Licht auf seinem Weg durch den Weltraum nahezu ungestört bleibt. Sofern uns die Atome in der Lufthülle der Erde nicht in die Quere kommen, können wir so die Linien sehen, die in der Aussenschicht des Sterns entstanden sind.“

„Und die Linien zeigen auch, wie die Atome verschmelzen?“

„Nicht direkt. Das Verschmelzen findet nämlich ganz tief in der Mitte des Sterns statt. Und leider sind Sterne innen völlig undurchsichtig. Aber wenn wir einmal wissen, welche Atome es in der Aussenschicht gibt, kann ein Computer ausrechnen, wie sie dort hingekommen sind.“

„Wie kamen sie denn dort hin?“

„Die meisten Atome, Wasserstoff und fast alles Helium, sind freilich Urzeit-Staub, der schon so uralt ist wie das Universums selbst und sich irgendwann zu einem Stern zusammengeballt hat. Ein paar Atome schwererer Elemente sind allerdings jünger. Diese sind, so haben Computer es ausgerechnet, im Innern von Urzeit-Sternen, wo es unglaublich heiss war und die Atome unglaublich dicht aufeinander gedrückt wurden, zusammengeschmolzen worden. Anschliessend sind die Urzeit-Sterne wieder zu Staub geworden, der sich zu unseren heutigen Sternen zusammengeballt hat. Und da es in deren Innern wieder heiss und dicht ist, können dort wieder Atome verschmolzen werden und die Sterne zum Leuchten bringen.“

Darüber musste Sarah eine ganze Weile nachdenken. „Und der Weihnachtsstern, der über Bethlehem geschienen hat“, fragt sie schliesslich, „war der so ein Urzeit-Stern? Sind in ihm vielleicht ganz besondere Atome entstanden?“

Diese Frage hatte dazu geführt, dass Onkel Balthasar ihr den Besuch in der Sternwarte versprochen hatte und sie nun hier war. Voller Spannung sah Sarah zu den Himmelsforschern auf – und verspürte aufkommende Enttäuschung, als sie die hilflosen Blicke las, welche die drei untereinander austauschten. Echt jetzt? Da hatten sie so viel Wissen und all diese Geräte… und waren schon damit am Ende?

Doch noch ehe ihre Enttäuschung sich wirklich zeigen konnte, ergriff Kaspar wieder das Wort: „Weisst du, der Weihnachtsstern macht selbst uns gewisse Schwierigkeiten. Denn er hat ja vor sehr, sehr langer Zeit, vor über 2000 Jahren, geleuchtet und war, nach allem, was wir wissen, nur wenige Wochen am Himmel zu sehen. Aber ein Urzeit-Stern war er nicht. Die ersten Sterne haben nämlich vor über 10 Milliarden Jahren geleuchtet – das ist eine 1 mit 10 Nullen, oder eine Million mal früher als der Weihnachtsstern zu sehen war.“

„Das ist unvorstellbar lang…Damit ist der Weihnachtsstern ja irgendwie schon wieder…modern“, überlegte Sarah. „Dann könnten in seinem Innern trotzdem neue Atome entstanden sein…“

„Was der Weihnachtsstern über Betlehem wirklich war, können wir heute nur raten“, erklärte Kaspar weiter. „Denn die Himmelsforscher, die damals die Sterne beobachtet haben und einem von ihnen nach Betlehem gefolgt sein wollen, hatten weder Teleskope noch Computer. Sie konnten nur deuten, was sie mit ihren eigenen Augen sahen und mit einem Schreibstäbchen auf ihren Tontafeln rechnen und für später aufschreiben konnten.“

„Und was habt ihr daraus erraten können?“, drängte Sarah weiter. Konnte das Rätsel um den Weihnachtsstern nun doch eine Lösung haben?

Onkel Balthasar liess sich auf einem Drehstuhl nieder und zog sie auf seinen Schoss, um sich mit ihr einem weiteren Terminal zuzudrehen. Ein paar Tastendrücke später erschien darauf ein farbenfroher Weltraum-Nebel.

„Es kommt vor“, erklärte der Onkel, „dass ein scheinbar neuer Stern aufleuchtet, wenn ein uralter Stern am Ende seines Lebens explodiert. Eine solche Explosion, die wir Nova oder, wenn sie richtig heftig ist, Supernova nennen, hinterlässt aber „Dreck“: leuchtende Nebel im Weltraum, die man auch Jahrtausende danach noch sehen kann.

Krebs-Nebel : Überrest einer Supernova, die für den Weihnachtsstern rund 1000 Jahre zu spät erschien.

Die Explosion dieses Sterns wurde im Jahr 1054 nach Christi Geburt am Himmel sichtbar. Himmelsforscher haben den hellen neuen Stern, der damals ganz plötzlich aufgetaucht war, bemerkt und ihre Beobachtung aufgeschrieben. Dieses Bild hat allerdings das Teleskop „Hubble“, das im leeren Weltraum um die Erde kreist, erst vor ein paar Jahren aufgenommen. Computer können den Weg der Nebelschleier zurückrechnen und kommen zu dem Ergebnis, dass sie im Jahr 1054 in einem Stern vereint waren und von da an auseinandergeflogen sind. Damit passt der „Krebs-Nebel“ wunderbar zu den Notizen von damals. Einen solchen Nebel, der um das Jahr 0 herum entstanden sein muss, hat aber noch niemand gefunden.“

„Dann war der Weihnachtsstern also keine Sternenexplosion…irgendwie schade“, kommentiert Sarah.

Der Onkel tippte schon wieder auf der Konsole herum, und als nächstes erschien ein Bild von einem leuchtenden Himmelskörper mit einem beeindruckenden Schweif.

„Der sieht ja aus wie der Stern auf unserer Holzkrippe!“, ruft Sarah aus.

„Allerdings“, stimmt Onkel Balthasar zu und fährt fort, „Das ist ein Komet – ein grosser Klumpen aus Stein und Eis, der auf einer sehr, sehr langen Bahn um die Sonne kreist und immer dann, wenn er in ihre Nähe gerät, vom Sonnen-Gegenwind einen Schweif bekommt.“

„So wie der Wind beim Radfahren meinen Pferdeschwanz hinter mir her flattern lässt! – Dann ist der Weihnachtsstern auch so ein Komet?“

„Das glaubten zumindest die Bibelforscher in den ersten beiden Jahrhunderten nach Christi Geburt, weshalb schon auf sehr alten Bildern vom Stall in Bethlehem der Stern als Komet mit Schweif dargestellt wird. Allerdings können wir heute die Bahnen der Kometen ziemlich genau berechnen und wissen, wann sie an der Sonne vorbeikommen – und vorbeigekommen sind.“

„Und…?“

„Unglücklicherweise ist einer der berühmtesten Kometen, der Halley’sche Komet, im Herbst des Jahres 12 vor  Christi Geburt am Himmel erschienen – also eindeutig ein paar Jahre zu früh, selbst wenn man alle Ungenauigkeiten berücksichtigt, die die Historiker erlauben. Um das Jahr 0 herum gab es dafür keinen Kometen. Dafür spricht übrigens auch, dass scheinbar niemand ausser den Gestalten in der Bibel einen bemerkt und etwas darüber aufgeschrieben hat.“

Wieder spürte Sarah die Enttäuschung aufkommen. „Aber…Was ist der Weihnachtsstern dann gewesen?“

Noch einmal tippte der Onkel auf den Tasten, und dieses Mal erschien ein Abbild des Sternenhimmels, auf welchem sich zwei einzelne Sterne langsam zwischen den anderen hindurch und aufeinander zu bewegten.

„Die hellsten scheinbaren Sterne am Himmel sind die Planeten unseres Sonnensystems, die von der Sonne angeleuchtet werden. Anders als richtige Sterne, die gemeinsam auf- und untergehen, wandern Planeten auf Bahnen, die wir berechnen können, über den Nachthimmel. Man findet sie deshalb jede Nacht ein Stück weitergerückt, sodass sie sich über Wochen am Himmel entlang zu bewegen scheinen. Und wenn sich zwei der ohnehin schon hell leuchtenden Planeten dabei am gleichen Flecken „begegnen“, erscheinen sie dem blossen Auge gemeinsam als ein noch hellerer Stern.“

„Und das ist im Jahr 0 passiert?“

„Wenn man die Bewegungen der Planeten auf ihren Bahnen zurückrechnet, stellt man fest, dass Jupiter und Venus sich im Jahre 3 vor Christi Geburt auf diese Weise am Himmel begegnet sein müssen. Und das gleich 3 Mal innerhalb weniger Wochen! Drei Jahre zu früh liegt ausserdem im Bereich der Ungenauigkeiten, die die Historiker dulden. Darüber, ob die Himmelsforscher aus dem Morgenland sich daraus ihrer Zeit einen Reim auf Bethlehem als Geburtsort eines neuen Königs machen konnten, ist man sich heute allerdings nicht einig.“

„Aber möglich wärs?“

„Hm…vermutlich“, räumt Onkel Balthasar ein. „Am wahrscheinlichsten ist, dass die weisen Himmelsforscher die Wege und Standorte der Planeten am Himmel, zu denen auch das Treffen zwischen Jupiter und Venus gehörte, mit ihrer eigenen Astrologie gedeutet haben. Und weil diese Astrologie wohl ziemlich kompliziert war, hat der Evangelist Matthäus, der in seiner Weihnachtsgeschichte in der Bibel von den Weisen aus dem Morgenlang geschrieben hat, das Ganze schlicht und einfach als ‚Stern über Bethlehem‘ beschrieben.“

„Dann gibt es also kein Regenbogenspektrum, das euch etwas über den Weihnachtsstern erzählen könnte? Ich hatte so gehofft, es würde etwas ganz Besonderes sein…“

Jetzt kamen die drei Himmelsforscher in der Sternwarte gehörig ins Grübeln.

„Vielleicht doch“, meinte Kaspar schliesslich, „Wenn die Weisen aus dem Morgenland über den Aufbau der Atome und die Linien im Spektrum Bescheid gewusst und ein Teleskop mit Prisma zur Hand gehabt hätten, hätten sie damit das Sonnenlicht sehen können, das von den angestrahlten Planeten zurückgeworfen wurde. Und damit hätten sie, wenn sie die Linien der Sonne gekannt hätten, etwas über die Atome in den Gashüllen der Planeten erfahren können.“

Sarah konnte das breite Lächeln ihres Onkels in der spiegelnden Bildschirmoberfläche sehen, als der hinzufügte: „Der Weihnachtsstern mag zwar keine leuchtende Gaskugel sein, wie die anderen Sterne. Aber dass er etwas über die Planeten unseres Sonnensystems zu erzählen wusste, macht ihn trotzdem zu etwas ganz besonderem, findest du nicht?“

Lächelnd nickt Sarah dem Bildschirm zu, dann drehte sie sich um: „So wie du! Wer hat schon einen Onkel, der so schlaue Freunde hat und so viel über Sterne weiss?“

„Und wer hat schon eine Nichte, die sich so für Sterne begeistern kann?“

Anstatt etwas zu erwidern schlang Sarah dem Onkel die Arme um den Hals und drückte ihn einfach an sich. Dann sah sie mit leuchtenden Augen zu ihm auf. „Zeigst du mir jetzt, wie das grosse Teleskop funktioniert…?“

 

Und wer (oder was) ist für euch (nicht nur an Weihnachten) etwas Besonderes?

Die Geschichte von Zahn 16 : Chemie beim Zahnarzt

Ich bin Zahn Einssechs („16“), Kathis erster grosser Backenzahn oben rechts (aus Sicht aller anderen oben links) – nach der Zahnformel im 1. Quadranten an Position 6. Ich möchte euch meine Geschichte erzählen, die mich und Kathi mehr als oft genug in eine Zahnarztpraxis geführt hat. Denn dort gibt es so viel spannende Chemie zu entdecken, dass eigentlich gar keine Zeit mehr zum Angsthaben bleibt, wenn man erst angefangen hat, über all diese Stoffe und Vorgänge nachzudenken.

Ich habe sogar so viel zu erzählen, dass Kathi mir zwei Geschichten widmet: Eine ist bei Maike auf MissDeclare erschienen(Kathi und ich danken herzlich dafür, dass wir dort zu Gast sein dürfen!) und die andere erscheint etwas später  hier in Keinsteins Kiste.

So möchte ich heute auf MissDeclare erzählen von:

  1. Karies-Vorbeugung mit Fluoriden
  2. Dem Inhalt der „Spritze“ für die lokale Betäubung
  3. Zement als Zahnfüllung
  4. Amalgam-Füllungen
  5. Inlays und Kronen aus Keramik

 

Und in der zweiten Geschichte geht es dann um:

  1. Diagnostik mit Vitalitätstest und Röntgenbildern
  2. Desinfizierende Spüllösungen
  3. Medikamente zur Behandlung einer Wurzelentzündung
  4. Füllmaterial für Wurzelhalsfüllungen und Provisorien
  5. Kunststoff“-Füllungen aus Komposit-Füllmaterial

Viel Spass bei unserer Gastgeberin und Nachwuchs-Chemikerin Missdeclare wünschen euch

Kathi Keinstein und ihr Zahn Einsechs!