Chemie ist überall – alles ist Chemie. Auch in unserem Körper, in dem unserer Tiere und in unserer Umwelt sowieso. Und damit ist nicht die „böse“ Chemie aus der Industrie gemeint. Deshalb ist ein Leben ohne Chemie gar nicht möglich. Mit Wissen über die Chemie unseres Körpers und seine Reaktionen auf die Stoffe um uns herum könnt ihr jedoch herausfinden, wie ihr tatsächlich gesund leben könnt. Und dieses Wissen gibt es hier.

Radioaktivität: Warnschild in Prypjat

Es ist der 26. April 1986, 0:30 osteuropäischer Zeit. An der nördlichen Grenze der späteren Ukraine – derzeit noch Teil der Sowjetunion – hat Alexander Fjodorowitsch Akimov Bauchschmerzen. Akimov ist Schichtleiter im Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl und betrachtet voller Unbehagen die Anzeigen im Kontrollraum „seines“ Reaktors. Eigentlich sollte er längst damit beschäftigt sein, den Reaktor wieder auf Vordermann zu bringen – aber Genosse Djatlov besteht darauf, den geplanten Test innerhalb der nächsten Stunde durchzuführen. Und wenn der Chef sagt, es werde getestet, dann wird getestet. Denn Akimov ist nicht darauf aus, sich einen neuen Job zu suchen.

Es soll getestet werden, ob der Reststrom, den die Kraftwerksturbinen bei einem Stromausfall liefern, reicht, um die Zeit bis zum Anlaufen der Notstromgeneratoren zu überbrücken. Eigentlich hätte man das schon 1983 tun sollen, bevor man den Kasten für den Regelbetrieb freigab – und nun, nach 3 Jahren Bummelei, hatte man es plötzlich nur allzu eilig damit.

Der „Kasten“ – der Reaktor in Block 4 – besteht aus einem Zylinder aus Graphit – reinem Kohlenstoff – 8 Meter hoch, 12 Meter im Durchmesser, durchzogen von etwa 1700 Kanälen für Brennstäbe, Steuerstäbe und hindurchfliessendes Kühlwasser. Die Anlage ist dazu gedacht, mit einer Nennleistung von 3200 MW Strom zu erzeugen, indem sie bei einer Betriebstemperatur von etwa 300°C – erzeugt durch Kernspaltung – Wasser erhitzt, um mit dem Dampf Turbinen anzutreiben. Der Graphit sorgt dabei als Moderator für die Aufrechterhaltung der Kernspaltungsreaktion.

Einen Gefahren-Test macht man allerdings nicht unter Volllast. Und da man einen Kernreaktor nicht einfach mal schnell runterfahren kann, hat man schon am vergangenen Morgen mit der langsamen Regelabschaltung begonnen. Dann aber brauchten die Genossen unbedingt mehr Strom im Netz, sodass sie noch einen halben Tag bei halber Last weiterproduziert hatten, ehe man weiter herunterfuhr. Und jetzt ist der ganze Kasten voller Xenon-Gift, das die Kernspaltung und damit die ganze Reaktorfunktion ausbremst – so sehr, dass der Reaktor gerade eben wegen irgendeinem Mist beinahe völlig abgeschmiert wäre.

Inzwischen haben Akimov und die Crew nahezu alle Steuerstäbe, die die Kernspaltung bremsen sollen, aus dem Reaktor entfernt, und der Kasten läuft so gerade eben stabil. Von den Vorschriften ist das jedoch weit entfernt! Und das bereitet Akimov umso mehr Bauchschmerzen, je weiter die Vorbereitungen für den Test voranschreiten.

Um 1:23:04 ist es schliesslich soweit: Der Test beginnt. Das Notkühlsystem ist abgeschaltet, damit es im Testverlauf nicht dazwischenfunkt, und Akimov verdrängt den Knoten in seinem Magen, als er die Schliessung der Turbinenschnellschlussventile anordnet – das Startsignal für den Test.

Dadurch wird der Kühlwasserdurchfluss gestoppt, und es wird binnen Sekunden wärmer im Reaktor. Die Wärme fördert die Reaktorleistung ungemein – nun rasch die Bremsstäbe wieder einfahren…wenn die nur nicht so quälend langsam wären! Indessen steigt die Reaktorleistung geradezu exponentiell weiter, denn der anfahrende Reaktor reinigt sich in Sekundenschnelle selbst, während dem Schichtleiter der Schweiss ausbricht: Das gerät ausser Kontrolle – Sofort Abschalten! Akimov betätigt rasch den Notabschaltungsknopf, und alle Bremsstäbe fahren – immer noch langsam! – gleichzeitig in den Reaktor zurück. Doch die Spitzen der Stäbe bestehen aus Graphit, der die Kernreaktion fördert und nicht bremst, bis das eigentliche Bremsmaterial in den Stabschäften tief in den Reaktor gelangt. Doch bis dahin sind die „Bremsen“ wirkungslos: 40 Sekunden nach Testbeginn wird die Kernreaktion endgültig zum Selbstläufer.

So wird es unweigerlich zu heiss im Reaktorkern, und das Ganze fliegt Akimov und der Crew buchstäblich um die Ohren: Wasserleitungen brechen und Wasser kann mit heissem Graphit und Zirkonium aus den Brennstabmänteln reagieren. Es entsteht Wasserstoff, der mit Luft eine explosive Mischung bildet. Eine Knallgas-Explosion deckt schliesslich den Reaktordeckel und das Dach des Kastens ab. Indes fördert Graphit die Kernreaktion umso besser, je heisser er ist. So steigt die Temperatur im Reaktor bis über 2000°C. Die Brennstäbe und alles andere im Reaktorkern beginnen zu schmelzen. Durch das offene Dach kommt dabei Luft an das glühende Riesenbrikett, das vom Reaktor übrig ist, und Hunderte Tonnen Graphit brennen lichterloh. Eine radioaktive Rauchwolke steigt über 1000m hoch aus den Trümmern auf.

Es wird über zwei Wochen dauern, bis allein der Graphitbrand gelöscht und das Austreten des radioaktiven Rauchs unterbunden ist. Akimov erlebt dies nicht mehr. Er stirbt am 11.5.1986 an akuter Strahlenkrankheit.

havarierter Reaktor in Tschernobyl am 27. April 1986

Der havarierte Reaktorblock 4 am 27. April 1986 – rechts neben dem zerstörten Reaktor sind weitere Schäden am Dach der Turbinenhalle sichtbar. Helikopterpiloten und Fotograf sind während des Überflugs hochgefährlichen Strahlenmengen ausgesetzt. (Bild: Chernobyl NPP)

Wie man aus Atomen Energie gewinnt

Über Atome

Alle Materie der Welt besteht aus Atomen. Jedes Atom besteht aus einem Kern aus Protonen und Neutronen sowie aus einer Elektronenhülle. Auf der Erde sind 118 chemische Elemente bekannt, deren Atome sich durch ihre charakteristische Protonenzahl unterscheiden. Die Neutronenzahl ist hingegen für ein bestimmtes Element nicht festgelegt: Atome eines Elements mit verschiedener Neutronenzahl nennt man Isotope.

Wasserstoff-Isotope: Wasserstoff , Deuterium , Tritium

Die drei natürlichen Isotope des Wasserstoffs: Die Zahl links oben in der „Nuklidschreibweise“ steht für die Summe aller Kernteilchen bzw. die Atommasse. Die Zahl links unten steht für die Zahl der Protonen, welche die Zugehörigkeit zu einem Element bestimmt: Atome aller Wasserstoff-Isotope haben ein Proton. Einfacher Wasserstoff (auch „Protium“) und Deuterium sind stabil, Tritium ist radioaktiv. (Bild: Dirk Hünniger (Own work) [GFDL or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons)

 

Atome können sich zu chemischen Verbindungen – Moleküle, Salze und andere – „zusammentun“, wobei sich ihre Elektronenhülle verändert, die Kerne aber unverändert bleiben (das ist Chemie).

Jedoch können auch Atomkerne verändert werden: Wenn sich dabei die Protonenzahl ändert, entstehen Atomkerne anderer Elemente (das ist Kernphysik bzw. Nuklearphysik).

„Nucleus“ ist übrigens das lateinische Wort für „Kern“. So hat alles, was in der Physik mit dem Begriff „nuklear“ behaftet ist, irgendwie mit Atomkernen zu tun. So hat die Bezeichnung „Nuklear-“ auch Eingang in die Sprache rund um die „Atomenergie“ gefunden.

 

Energie dank Massendefekt

Die Bildung von Atomkernen aus Protonen und Neutronen funktioniert ähnlich wie die Bildung von Molekülen in der Chemie: Beim Zusammenfügen der Teilchen wird Energie frei. Und je mehr Teilchen im Atomkern zusammenkommen, desto mehr Energie wird frei. Das wird ersichtlich, wenn man Atomkerne wiegt: Ein Heliumkern wiegt nämlich weniger als je zwei einzelne Protonen und Neutronen: Die fehlende Masse wurde als Energie abgegeben! Und da der „zu leichte“ Atomkern zu dem Gedanken verleitet, er sei irgendwie kaputt, nennt man diese Erscheinung „Massendefekt“.

Allerdings gilt das nur für Atomkerne, die höchstens so schwer sind wie ein Eisen-Kern. Um schwerere Kerne als die des Eisens zusammenzubauen, muss man Energie hinzufügen. So sind die Atomkerne der Elemente jenseits des Eisens tatsächlich schwerer als die Summe ihrer Protonen und Neutronen. Findige Physiker kamen so in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Idee, schwere Atomkerne auseinanderzubauen, um an diese Energie heranzukommen und sie zu nutzen.

 

Der Coup mit der Kernspaltung:

Auf manche Kerne braucht man dazu bloss ein einzelnes Neutron zu schiessen: Sobald das Neutron von solch einem Kern aufgenommen wird, hält dieser nicht mehr zusammen: Er wird gespalten, d.h. er zerfällt in Stücke, darunter meist zwei Kerne leichterer Elemente und ein oder mehrere einzelne Neutronen. Zudem wird ein Teil seiner Kernbindungsenergie frei, teilweise als Bewegungsenergie der Bruchstücke, teilweise in Form von Gamma-Quanten („Licht“) und teilweise in Form grosser Mengen Wärme.

Das Praktische daran ist: Die frei werdenden Neutronen können weitere Atomkerne treffen und spalten, sodass sich die Kernspaltung in einer Kettenreaktion in einem spaltbaren Material unter den richtigen Bedingungen selbst unterhält.

Zu diesen Bedingungen zählt unter anderem die passende Energie bzw. „Geschwindigkeit“ der Neutronen-Geschosse: Zu schnelle Neutronen, wie sie bei einer Kernspaltung freigesetzt werden, prallen nämlich in den meisten Fällen wirkungslos von spaltbaren Kernen ab. Deshalb benötigt man für eine Kettenreaktion neben spaltbarem Material weitere Atome, von welchen schnelle Neutronen abprallen und dabei gebremst – „moderiert“ – werden können. Dafür eignen sich zum Beispiel Wasserstoff-Atome (viele heutige Kernreaktoren enthalten Wasser als „Moderator“), oder Kohlenstoff-Atome, wie Graphit sie enthält.

 

Nutzung der Kernspaltung: Von Bomben und Steuerstäben

Die Kettenreaktion lässt sich auf zweierlei Weise ausnutzen: Wenn man möglichst viele „langsame“ Neutronen gleichzeitig auf spaltbares Material loslässt, pflanzt sich eine Kettenreaktion in Sekundenschnelle fort und setzt ebenso schnell eine riesige Menge Energie frei, die zu der gewaltigen Explosion einer Atombombe führt.

In einer ausgeklügelten Anlage kann man hingegen die Menge der zur Kernspaltung nutzbaren Neutronen sehr genau steuern. Dazu verwendet man bewegliche „Steuerstäbe“ aus einem Material, dessen Atome Neutronen aufnehmen können ohne gespalten zu werden. Je weiter diese Stäbe in einen Block aus spaltbarem Material und Moderator eingebracht werden, desto mehr Neutronen werden „verschluckt“ und können nicht mehr an der Kettenreaktion teilhaben. Mit solch einem Reaktor, in dem kontrolliert Wärme durch Kernspaltung entsteht, kann man in einem Atomkraftwerk Strom erzeugen.

 

Und was ist mit der Strahlung?

Obwohl herumliegende Trümmer eindeutig eine andere Sprache sprechen, beharrt die Kraftwerksleitung in Tschernobyl bis zum Abend des 26. Aprils darauf, dass der Reaktor bei dem Unglück intakt geblieben sei. In Folge dessen wird die Bevölkerung der 5 km entfernten Siedlung Prypjat erst am 27. April evakuiert.

Erst, nachdem im 1200 km entfernten schwedischen Kernkraftwerk Forsmark am 28. April um 9:00 wegen erhöhter Radioaktivität Alarm ausgelöst wird, welche nach erfolgloser Suche nach eigenen Lecks auf einen Fallout aus (Wind-)Richtung Sowjetunion zurückgeführt wird, dringt die Nachricht von dem Unglück in Tschernobyl in den Westen durch.

Die Nachrichten von radioaktivem Niederschlag über weiten Teilen Europas schüren Verunsicherung und Ängste bei der Bevölkerung. Allein in Nordrhein-Westfalen werden Hunderte Naturwissenschaftler – „jeder, der irgendein chemisches Element buchstabieren konnte“ – rekrutiert, um die Notfall-Hotline der Landesregierung zu besetzen und die Fragen zahlloser verängstigter Bürger zu beantworten.

Ich bin viereinhalb Jahre alt, als mein Vater – einer der Physiker, die an jener Hotline Dienst taten – uns erklärt, dass Mama meine Schwester und mich nicht im Garten spielen lasse, weil es nach einem schlimmen Unfall weit im Osten „Gift“ geregnet habe.

Inzwischen sind die ersten der insgesamt 600.000 bis 800.000 „Liquidatoren“ in Tschernobyl mit Aufräumarbeiten beschäftigt: Jene Männer, die Trümmer des zerstörten Block 4 vom Dach des benachbarten Blocks 3 räumen, dürfen sich der Strahlung wegen nur jeweils 40 Sekunden auf dem Dach aufhalten. Ein Mann für jede Schaufel Abraum. Andere werfen mit Hubschraubern Löschmittel auf den havarierten Reaktor ab, begraben tonnenweise Erde unter Beton, versuchen Staub an den Boden zu binden. Das Gebiet im Radius von über 30 Kilometern um das Kernkraftwerk wird evakuiert, dort lebende Tiere getötet, damit sie die Strahlung nicht aus der Sperrzone hinaustragen…

 

Aber was ist „radioaktive Strahlung“ eigentlich, und warum ist sie so gefährlich?

Was ist Radioaktivität?

„Radioaktivität“ ist eine Eigenschaft einiger Atomkerne: Nicht alle Kombinationen von Protonen und Neutronen in einem Atomkern halten fest zusammen. Solche instabilen Kerne sind radioaktiv, sie „bröckeln“: Früher oder später löst sich ein „Bröckel“ aus dem Atomkern und fliegt – sofern er nicht von aussen beeinflusst wird – mit Geschwindigkeiten im Bereich von 10000 km/s [2] geradeaus davon.

Solche „Bröckel“ können α- oder β-Teilchen sein (da diese Teilchen geradlinig vom Atomkern wegfliegen, erscheinen sie auf den ersten Blick wie „Strahlen“ und werden oft auch so genannt). α-Teilchen sind nackte Helium-Atomkerne, bestehend aus je zwei Protonen und Neutronen, während β-Teilchen Elektronen (oder Anti-Elektronen, „Positronen“) sind, die entstehen, wenn ein Neutron im Kern zu einem Proton zerfällt und dabei ein Elektron abgibt (bzw. ein Proton ein Positron abgibt und als Neutron verbleibt). Die einzigen „echten“ Strahlen sind γ-Strahlen: Dabei handelt es sich um sehr energiereiche „Licht“-Wellen, die von besonders energiereichen Atomkernen abgegeben werden können.

In der Natur gibt es viele derart instabile Kerne, die radioaktiv sind. Viele Elemente bestehen aus einem Gemisch aus stabilen und radioaktiven Isotopen, sodass Stoffe, die sich aus solchen Elementen zusammensetzen, automatisch diese verschiedenen Isotope enthalten. So findet man zum Beispiel in Bananen, die von Natur aus viel Kalium enthalten, auch Atome des radioaktiven Isotops  40K, und jeder Mensch, der naturgemäss aus Kohlenstoffverbindungen besteht, enthält Atome des radioaktiven Isotops 14C. Dass unsere Umgebung einschliesslich uns selbst „strahlt“, ist also erst einmal normal.

Einmal abgestrahlte α-Teilchen kommen jedoch nicht weit: Auf ihrem Weg stossen sie immer wieder gegen andere Teilchen und verlieren an Energie und damit an Geschwindigkeit. Schon nach ein bis zwei Millimetern Flugstrecke in Luft ergattern sie sich irgendwo zwei Elektronen und werden zu normalen Helium-Atomen. β-Teilchen (Elektronen) finden spätestens nach 10 Metern in Luft ein Atom als neue „Heimat“. γ-Strahlen verhalten sich hingegen wie fast alles durchdringendes Licht und breiten sich geradezu unendlich weit aus, wenn ihnen keine besonders dichte Materie, wie ein dicker Blei-Klotz, im Wege steht.

Das „Ende“ von α- und β-Teilchen deutet es schon an: Wenn solch ein reisender „Bröckel“ mit Volldampf auf ein Atom trifft, kann dieses „kaputtgehen“: Der Einschlag kann Elektronen aus der Hülle schleudern. Die „Strahlen“ wirken ionisierend (auch γ-Strahlen haben diese verheerende Wirkung: Sie sind energiereicher als Licht (Lichtphänomene) und regen Elektronen so stark an, dass diese „ihr“ Atom verlassen können!).

Der Begriff „Ionisierende Strahlung“ beschreibt diese herumfliegenden Atomtrümmer also besser als der Pleonasmus „radioaktive Strahlung“ („radioaktiv“ bedeutet nichts anderes als „strahlend“).

 

Wie misst man „radioaktive“ bzw. ionisierende Strahlung?

Die ersten Wissenschaftler, die sich mit Radioaktivität beschäftigten, ahnten noch nichts von ihrer Gefährlichkeit. So interessierten sie sich vornehmlich für die Menge der Strahlung, die von einem radioaktiven Stoff ausging. Die Curies „erfanden“ deshalb die später nach ihnen benannte erste Masseinheit für die Aktivität – den Vergleich mit der Aktivität von einem Gramm Radium.

In einem Gramm Radium zerfallen in jeder Sekunden 37 Milliarden Atome und geben „Strahlen“ ab. Das entspricht einer Aktivität von einem Curie (Ci). Dieser enormen Strahlungsmenge sollte man jedoch tunlichst fern bleiben. So wird heute eine wesentlich „handlichere“ Einheit für die Aktivität verwendet:

Eine Stoffmenge, in welcher im Mittel in jeder Sekunde ein Atom zerfällt, hat eine Aktivität von einem Becquerel (Bq).

 

Ein Gramm Radium hat also eine Aktivität von 37 Milliarden Becquerel! Ein Gramm Natur-Uran hätte hingegen eine Aktivität von 25.290 Becquerel, ein Gramm natürliches Kalium 31,2 Becquerel. [1]

Wer sich mit der Gefährlichkeit von ionisierender Strahlung beschäftigt, wird sich allerdings mehr dafür interessieren, wie viele Strahlen einen Menschen (oder anderen Organismus) tatsächlich treffen und in ihm Schaden anrichten. Und Schaden wird angerichtet, wenn die Atome des Körpers die (Bewegungs-)Energie einfallender Strahlung aufnehmen. Deshalb wird häufig eine Energiedosis für ionisierende Strahlung angegeben:

Ein Kilogramm Materie (zum Beispiel Körpermasse), die eine Energiemenge von einem Joule aus Strahlung aufnimmt, erhält eine Energiedosis von einem Gray (Gy).

 

Wir alle sind tagtäglich natürlicher ionisierender Strahlung aus dem Weltraum ausgesetzt. Jedes Kilogramm unserer Körper nimmt daher täglich 3*10-5 (drei Hunderttausendstel) Gray aus der Weltraumstrahlung auf [2]. Die 1000 Liquidatoren, die am ersten Tag nach dem Tschernobyl-Unglück in unmittelbarer Nähe von Reaktorblock 4 eingesetzt wurden, bekamen dort eine Energiedosis von etwa 2 bis 20 Gray ab [1].

Strahlung ist aber nicht immer gleich Strahlung. Wenn ein α-Teilchen mit hoher Geschwindigkeit auf ein Atom trifft, kommt das einem nuklearen Crash mit einem Lastwagen gleich, während sich die Begegnung mit einem ähnlich schnellen, aber rund 1000 mal leichteren β-Elektron im Vergleich dazu wie der Zusammenstoss mit einem Radfahrer ausnimmt. Zur Bestimmung der Gefährlichkeit der Strahlenarten muss ihre Energiedosis daher mit einem „Gefährlichkeitsfaktor“ multipliziert werden. Wenn dieser Faktor für β-Teilchen und γ-Strahlen 1 ist, beträgt er für α-Teilchen 20.

Durch die Multiplikation der Energiedosis mit dem Gefährlichkeitsfaktor erhält man schliesslich die Äquivalentdosis in Sievert (Sv), die in Strahlenschutz-Belangen Verwendung findet.

 

Pro Jahr ist ein Mensch durchschnittlich zwei Tausendstel Sievert (2 mSv) aus natürlicher Strahlung ausgesetzt, in Gegenden mit besonderen Vorkommen radioaktiver Elemente im Boden sogar deutlich mehr. Im Fall einer kurzzeitigen(!) Begegnung mit starker Strahlung macht sich eine Dosis bis etwa 200 mSv durch keinerlei Symptome bemerkbar. Erst darüber treten Symptome der Strahlenkrankheit auf. Wenn Menschen in kurzer Zeit einer Strahlendosis von 4,5 Sv oder mehr ausgesetzt sind, stirbt jeder zweite innerhalb von vier Wochen. Eine Dosis von 6 Sv oder mehr in kurzer Zeit gilt als absolut tödlich – die gleiche Dosis innerhalb von 50 Jahren bleibt hingegen ohne messbare Folgen [2].

 

Was bewirkt ionisierende Strahlung?

Ionisierende Strahlung kann mit einem Geigerzähler (eigentlich: Geiger-Müller-Zählrohr) registriert werden: In dem Zählrohr befindet sich ein dünnes Gas aus Atomen, die von einfallender ionisierender Strahlung in Ionen und Elektronen gespalten werden und in einem elektrischen Feld zu zwei Polen hingezogen werden. Die wandernden geladenen Teilchen schliessen so einen Stromkreis, was sich im angeschlossenen Lautsprecher als „Knack“ bemerkbar macht. Je mehr „Knacks“ es gibt, desto mehr ionisierende Strahlen sind in das Gas im Zählrohr eingeschlagen.

Wenn die ionisierende Wirkung ein Atom in einem Molekül trifft (zum Beispiel in einem Biomolekül wie DNA), kann das Molekül als solches Schaden nehmen. Da Radioaktivität eine ganz natürliche Sache ist, haben Zellen – auch menschliche – verschiedene Mechanismen entwickelt, um kaputte Biomoleküle, insbesondere DNA, bei Bedarf zu reparieren. Erst wenn die Zellen mehr ionisierende „Treffer“ einstecken müssen, als sie reparieren können, entstehen spürbare Zell- und Gewebeschäden.

Bei sehr grossen Strahlenmengen äussert sich das als „Strahlenkrankheit“. Weniger grosse oder über längere Zeit ertragene Strahlenmengen spürt man hingegen nicht sofort – was sie so tückisch macht. Dauerhaft beschädigte DNA kann jedoch – auch lange nach der Begegnung mit der Strahlung – zu Erkrankungen wie Krebs und Leukämie führen.

 

Was hat Radioaktivität bzw. ionisierende Strahlung mit Atomkraftwerken zu tun?

Die wohl wichtigste Atomsorte, die für die Kernspaltung geeignet ist und in grösseren Mengen in der Natur vorkommt, ist das Uran-Isotop 235U. Deshalb findet 235U sowohl in ersten Atombomben als auch in Reaktoren Verwendung (eigentlich ist das Isotop 238U noch sehr viel häufiger, aber nicht spaltbar, sodass bei der Herstellung von Kernbrennstoff ein Teil des 238U  aufwändig vom Rest getrennt werden muss, um  für die Kettenreaktion ausreichend „anzureichern“).

Unglücklicherweise sind sowohl 235U als auch 238U  von Natur aus radioaktiv. Beide Isotope sind α-Strahler, d.h. sie zerfallen zu Heliumkernen und Isotopen des Elements Thorium – die wiederum radioaktiv sind. Die Halbwertszeit – also jene Zeitspanne, in welcher die Hälfte einer Portion einer Atomsorte zerfällt, beträgt für 235U 703,8 Millionen Jahre, für 238U  4,47 Milliarden Jahre (das entspricht etwa dem Alter der Erde!). Eine Portion Uran enthält also immer – grossteils radioaktive – Atome einer ganzen Reihe verschiedener Elemente, die im Zuge der Abfolge verschiedener Zerfälle entstehen.

Allein deshalb erfordert der Umgang mit Uran schon besondere Sicherheitsvorkehrungen. Der eigentliche Haken an der Sache kommt aber noch:

In den wenigen Wochen, die das Uran in einem Kernreaktor zubringt, entsteht eine Vielzahl von Spaltprodukten und sehr schweren Atomkernen, die oftmals ihrerseits radioaktiv sind, durch „Verschlucken“ der herumfliegenden Neutronen.

Zu den Spaltprodukten zählt zum Beispiel das Xenon-Isotop 135Xe, das mit Vorliebe Neutronen schluckt und die Kettenreaktion ausbremst. Deshalb wird dieses Isotop als „Reaktor-Gift“ (das ist der „Xenon-Müll“ in der Einleitung) bezeichnet. Wenn ein Reaktor unter Volllast läuft, reagiert das 135Xe jedoch ebenso schnell weiter, wie es entsteht, sodass es sich nicht ansammelt. Während der Reaktor in Tschernobyl einen halben Tag lang nur mit halber Kraft lief, ist hingegen mehr 135Xe entstanden als abgebaut werden konnte, was die Kettenreaktion regelrecht ausgebremst und zu dem dramatischen Leistungseinbruch vor Beginn des fatalen Tests geführt hat.

Das Berüchtigste unter den entstehenden schweren Elementen, auch „Transurane“ genannt, ist das Plutonium, dessen Isotop 239Pu ebenfalls spaltbar ist und sowohl als Reaktor-Brennstoff als auch für Atombomben taugt (deshalb werden Uran-Brennstäbe gemäss den Regeln der Internationalen Atomenergie-Behörde so lange im Reaktor belassen, bis das entstehende 239Pu zu nicht spaltbarem 240Pu weiterreagiert ist [2]).

Insgesamt strahlt die bunte Mischung von Atomkernen in „verbrauchten“ Brennstäben rund 10 Millionen mal stärker als „frisches“ Uran! Und dabei haben viele dieser Kerne solch lange Halbwertszeiten, dass die Brennstäbe selbst 10 Jahre nachdem sie ausrangiert wurden, noch rund eine Million mal stärker als „frisches“ Uran strahlen [2]. Daraus ergibt sich die ungeheure Problematik bei der Lagerung dieses „Atommülls“: „Verbrauchtes“ Brennmaterial sollte möglichst lange möglichst weit weg bzw. abgeschottet von allem lagern können, bis seine radioaktiven Bestandteile zerfallen sind. Und da „möglichst lange“ viele Jahrtausende meint, gibt es noch keine Technologie, welche eine gefahrlose Lagerung auf der Erde über so lange Zeit wirklich sicherstellt.

 

Leser fragen zu Kernkraft und Radioaktivität:

Cornel van Bebber fragt auf Google+:

Was ist der Unterschied zwischen dem radioaktiven Zerfall im Kernkraftwerk in Tschernobyl und der Atombombe?

Im Grunde genommen gibt es keinen – denn der Brennstoff im Reaktor und Atombomben bestehen aus den gleichen Stoffen (allerdings muss das spaltbare Material für den Bau einer funktionierenden Bombe um einiges stärker angereichert werden als für den Kraftwerksbetrieb). Die Reaktionen, welche in einem Kraftwerk innerhalb von Wochen und Monaten ablaufen, finden bei der Explosion einer Atombombe in Sekunden statt – die Spalt- und Nebenprodukte sind aber weitestgehend die gleichen.

Besonders berüchtigt sind vor allem Cäsium-137 (137Cs), ein β-Strahler mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren, und Iod-131 (131I), ein β-Strahler mit einer Halbwertszeit von 8 Tagen. Beide sind mögliche Bruchstücke, die bei der Spaltung von 235U entstehen, und somit sowohl aus einer Bombe als auch aus einem havarierten Reaktor freigesetzt werden können.

Cäsium-137 ist besonders gefährlich, weil es chemisch den anderen Alkalimetallen, vor allem dem Kalium, ähnelt und leicht an deren Stelle  einen Weg in Organismen findet, und weil es zu energiereichen, „angeregten“ Barium-137-Kernen zerfällt, die wiederum γ-Strahlen abgeben, um zu nicht-strahlendem Barium-137 ( 137Ba ) zu werden. In der Medizin macht man sich diese γ-Strahlen bei der Strahlentherapie von Tumoren zunutze, aber in „freier Natur“ können sie auch auf gesundes Gewebe eine verheerende Wirkung haben.

Iod-131 zerfällt zwar recht schnell, aber der menschliche Körper lagert Iod-Atome rasch in der Schilddrüse ein, um sie zu Hormonen verarbeiten zu können. Dabei unterscheidet der Organismus nicht zwischen verschiedenen Isotopen, da diese sich chemisch gleichen. So kann in der Schilddrüse gesammeltes Iod-131 in kurzer Zeit merkliche Schäden anrichten und beispielsweise Schilddrüsenkrebs auslösen. Deshalb sind in der Schweiz im Einzugsgebiet von Kernkraftwerden Iod-Tabletten mit nicht-strahlendem Iod ausgegeben worden, die die Bevölkerung im Falle einer Freisetzung von Iod-131 schnell einnehmen soll. Damit soll erreicht werden, dass die betroffenen Körper das Tabletten-Iod zuerst einlagern und für Iod-131 möglichst keinen Platz mehr lassen.

Der grosse Unterschied zwischen Bombe und Kernkraftwerk besteht letztlich darin, dass das radioaktive Material durch die Explosion einer Atombombe weit verteilt wird und schnell ein grosses Gebiet „verstrahlt“, während es im Kernkraftwerk samt seiner abgestrahlten Teilchen und Strahlen im Reaktor bleibt und niemandem direkt schadet – normalerweise jedenfalls.

Nach dem Unglück in Tschernobyl durften meine Schwester und ich unseren Physiker-Vater in den Garten begleiten, um Bodenproben aus dem Sandkasten, Mamas Beeten und vom Grund des Gartenteichs zu nehmen. Mit den Proben sind wir dann nach Düsseldorf in die Uni gefahren, wo es eine Zähl-Apparatur gab, mit welcher Papa die Strahlung aus dem „Gift“ in unserem Garten messen und – so hofften wir zumindest – das Draussen-Spiel-Verbot allenfalls wieder aufheben konnte. Unsere und andere Messungen von Papas Kollegen ergaben allerdings, dass von den Böden in der Umgebung doch um einiges mehr Strahlung ausging als normal gewesen wäre.

 

Sichtbare Radioaktivität: Iod 131 in Gras aus Berlin, detektiert auf Planfilm 19 Tage nach dem Tschernobyl-Unglück

Schüler in West-Berlin legten am 15. Mai 1986 ein Büschel Gras von ihrem Schulhof für knapp 2 Tage auf einen Planfilm. Ionisierende Strahlung schwärzt, vergleichbar mit Licht, Filmmaterial. Auf dem hier gezeigten Negativ erscheinen stark strahlende Bereiche weiss. Der runde, schwarze Fleck rührt von einer Münze her, welche die gestreute Strahlung abschirmt. Wenn die weissen Flecken hier tatsächlich, wie von den Autoren angegeben, von Iod-131 herrühren, ist dem Datum nach davon auszugehen, dass hier allenfalls ein Viertel des ursprünglich in diesem Fallout freigesetzten Iod-131 „detektiert“ wurde (bei einer Halbwertszeit von 8 Tagen hat sich die Menge des Isotops seit der Freisetzung schon zweimal halbiert). (Bild: ViolaceinB (Own work) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons)

 

Cedric97 von itscedric.de fragt:

Block 4 ist ja in die Luft geflogen, aber die anderen drei Reaktoren liefen ja noch Jahre weiter. Meine Frage: Warum wurden die anderen Reaktoren weiter betrieben?

Laut der Wiener Umweltanwaltschaft, die auf Wikipedia zitiert wird, hat das Kernkraftwerk Tschernobyl – für die Sowjetunion eine „Vorzeige-Anlage“ – seinerzeit ein Sechstel des Atomstroms auf dem Gebiet der Ukraine geliefert, was 4 bis 10% des Gesamtstroms entspricht. Darauf konnte oder wollte der Staat seinerzeit nicht von jetzt auf gleich verzichten. Tatsächlich war die Fertigstellung der im Bau befindlichen Blöcke 5 und 6 nach Absinken der Radioaktivität noch geplant. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnte die Regierung der seither unabhängigen Ukraine gegen Ausgleichszahlungen seitens der EU dazu bewegt werden, die verbliebenen Blöcke 1 bis 3 des Kraftwerks endgültig abzuschalten („Memorandum of Understanding“ zwischen den G7-Staaten und der Ukraine vom 20.12.1995).

Gibt es bereits Vergleiche mit Tschernobyl zu den beschädigten Kernkraftanlagen in Belgien?

In meinen Augen wäre ein solcher Vergleich gar nicht sinnvoll: Die Kernkraftwerke Doel und Tihange in Belgien arbeiten mit Druckwasser-Reaktoren. Darin wird Wasser als Moderator und Wärmeüberträger verwendet, welches durch Überdruck im Reaktor-Druckbehälter am Verdampfen gehindert wird. Diese Druckbehälter einer bestimmten Baureihe weisen in Belgien nun eine grosse Anzahl Haarrisse auf. Würde ein solcher Behälter Leck schlagen, sodass es zu einem Druckabfall kommt, könnte das Wasser darin verdampfen und seine wärmeabführende Wirkung verlieren. Dann bestünde die Gefahr einer Kernschmelze.

Der Tschernobyl-Reaktor vom Typ RBMK-1000 war hingegen ein Siedewasser-Druckröhrenreaktor, der statt einem Druckbehälter viele unter Druck stehende Röhren mit Brennstoff sowie Graphit als Moderator enthielt. Auch weitere Sicherheitshüllen („Containment“), wie sie die belgischen (und andere westliche) Reaktoren umgeben, haben die RBMK-Reaktoren nicht. Die Freisetzung des hoch radioaktiven Materials aus dem Reaktor-Kerns nach der einmal eingetretenen Kernschmelze ist demnach nicht zuletzt auf die baulichen Schwächen dieses Reaktor-Typs zurückzuführen.

Erstarrte "Lava" aus vormals geschmolzenem radioaktivem Reaktormaterial im Dampf-Ventil im Keller von Tschernobyl

Geschmolzenes radioaktives Material aus dem havarierten Reaktor ist im Keller von Block 4 in Tschernobyl aus einem Ventil zur Dampf-Ableitung ausgetreten und erstarrt. Hier gab es keine Sicherheitsbehälter, die die lavaartige Schmelze hätten zurückhalten können. (Bild: The Kurchatov Institute (Russia) and the ISTC-Shelter (Ukraine); Quelle: International Nuclear Safety Program)

Als Nicht-Kernkraft-Ingenieurin kann ich also nur hoffen, dass die Verantwortlichen in Belgien (wie auch in der Schweiz – das Kernkraftwerk Mühleberg verwendet einen Reaktor-Druckbehälter des gleichen Herstellers wie die Kraftwerke in Belgien) wissen, was sie tun, und sich anders als die Ingenieure in Tschernobyl an ihre Vorschriften halten, bis die betreffenden Reaktoren endgültig vom Netz genommen werden.

 

Renate Thormann schreibt auf Facebook:

Ich halte es für wichtig, dass man sich immer und immer wieder der Langzeitfolgen bewusst bleibt. Da wird nicht genug hingesehen und es ist auch mangels Erfahrung gar nicht bekannt, was alles geschieht, wenn man lange auf kontaminiertem Gebiet lebt. Im Staate Washington ist grade wieder eine Riesenkatastrophe mit nuklearem Material geschehen. Das Leck dort bestand schon seit 2011 .. jetzt leckt es mehr als massiv, nämlich katastrophal. Was hört man davon? Nix? Eben … darum finde ich es am wichtigsten so viel wie möglich zu informieren. Langzeitfolgen im Auge zu behalten und Erfahrungen mit Radioaktivität auszutauschen. Es gibt eine „Sarkophag“ Seite, die immer über Tschernobyl berichtet ..

Innerhalb von 206 Tagen nach der Havarie von Tschernobyl umschliessen rund 90.000 Liquidatoren den gesamten Reaktorblock 4 mit einem zwanzig „Stockwerke“ hohen Kasten aus Stahlbeton, in dem die verbliebenen Überreste des geschmolzenen Kerns seither ruhen wie in einem Sarkophag.

Dieses schon gewaltige Bauwerk war auf eine Lebensdauer von etwa 30 Jahren ausgelegt, doch der Zahn der Zeit zeigte seine Spuren schon weitaus früher – es gibt verschiedene Berichte von Undichtigkeiten oder gar Teil-Einstürzen. So ist im Augenblick ein zweiter Sarkophag im Bau, welcher noch über den ersten geschoben werden und 100 Jahre halten soll. Doch was kommt dann?

der neue Sarkophag für den Reaktor von Tschernobyl im März 2016

Der neue Sarkophag im März 2016: Nach seiner Fertigstellung soll er über den alten Sarkophag (links im Hintergrund) geschoben werden. Das macht ihn zum bis Dato grössten beweglichen Gebäude der Welt. (Bild: Tim Porter (Eigenes Werk) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons)

 

Und die Reaktor-Ruine von Tschernobyl ist nicht die einzige unnatürliche Quelle ionisierender Strahlung. Moderne, nach allen Sicherheitsvorschriften betriebene Kernkraftwerke zählen meines Wissens nicht dazu. Stattdessen sind es Altlasten, die zunehmend Sorgen bereiten. Da ist die von Renate erwähnte Hanford Site in Washington State im Nordwesten der USA, ein ehemaliges Versuchsreaktoren-Gelände, auf welchem grosse Mengen radioaktiver Abfälle in Tanks lagern – Tanks, die altern und zunehmend Lecks aufweisen. Da ist der Reaktorunfall in Fukushima in Japan, der letztlich von Naturgewalten ausgelöst wurde. Die austretende Strahlung ist in der Natur dennoch nicht vorgesehen. Da sind die über Hiroshima und Nagasaki eingesetzten Atombomben und zahllose weitere Atomwaffentests

Nichts desto trotz ist das Atomzeitalter, wenngleich es sich nach der Meinung vieler dem Ende neigen sollte, noch jung – es zählt weniger als 100 Jahre. So sind unsere Kenntnisse der Langzeitfolgen durch das  Tschernobyl-Unglück und anderer unnatürlicher Strahlenquellen bestenfalls lückenhaft, in mancher Hinsicht noch gar nicht abzusehen, und sie werden nach wie vor kontrovers diskutiert.

So schliesse ich mich Renate von Herzen an: Erinnern wir uns an jene schicksalhafte Nacht auf den 26. April 1986, und an alle anderen schicksalhaften Augenblicke des Atomzeitalters und behalten wir ihre Folgen im Auge, um daraus für die Zukunft zu lernen.

Dieser Post enthält (nicht nur) meine Erinnerung und mag hoffentlich helfen zu verstehen, worum es bei Atomen, Kernkraft und Radioaktivität eigentlich geht.

 

Erinnert ihr euch noch an das Tschernobyl-Unglück? Wie habt ihr jene Tage vor 30 Jahren erlebt? Oder seid ihr erst „nachher“ zur Welt gekommen? Welche Bedeutung haben die Ereignisse für euch?

Literatur:

[1] Es gibt einen ausführlichen Artikel zum Unglück von Tschernobyl auf Wikipedia:  https://de.wikipedia.org/wiki/Nuklearkatastrophe_von_Tschernobyl. Die Einleitung des Posts ist eine freie Nacherzählung anhand der dortigen Darstellung des Unfallhergangs.

[2] Rudolf Kippenhahn (1998): Atom.Forschung zwischen Faszination und Schrecken. Erweiterte Taschenbuchausgabe im Piper-Verlag GmbH, München. (Das Buch ist vergriffen, aber auf dem Gebrauchtmarkt und in Bibliotheken zu finden: Ein umfassendes, auch für den Laien verständliches Werk, das durch die Geschichte der Atome und ihrer Erforschung führt und schliesslich umfassende Informationen zu Kernenergie und Radioaktivität bereithält.

[3] Weitere Einzelheiten und Bilder rund um Tschernobyl und das Unglück in englischer Sprache gibt es auch auf http://chernobylgallery.com/

Chemie im Osternest: Ostereier und Farbstoffe

Der Frühling kommt unaufhaltsam, und mit ihm rücken die Ostertage immer näher. Nach dem grauen Winter gibt es wohl kaum jemanden, der sich nicht nach dieser hellen Zeit voller Farben sehnt: Sonne, Frühlingsblumen, bunte Eier… doch bis es soweit ist, und wir uns an den Farben freuen können, steht noch Arbeit an. Im Supermarkt gibt es reichlich Hilfsmittel im Angebot, unter anderem eine breite Palette von Färbemitteln für die Eier. Das verspricht Mal- und Bastelspass für Gross und Klein!

Als ich mir die Packungen – bei den beiden bekanntesten Schweizer Grossverteilern von einem deutschen Hersteller – genauer ansah, war jedoch zunächst einmal meine Chemiker-Neugier geweckt: Das Verzeichnis der Inhaltsstoffe bestand durchweg aus einer umfangreichen Liste von E-Nummern. Nun, die sind für sich erst einmal nichts schlimmes, sind doch einer ganzen Reihe nützlicher und gesunder Substanzen – beispielsweise vielen Vitaminen – E-Nummern zugeordnet, die als Kurzschreibweise die gesetzliche Kennzeichnungspflicht auf kleinstmöglichem Raum erfüllen. Hier jedoch beschlich mich ein Verdacht. Und da ich kein wandelndes E-Nummern-Lexikon bin, habe ich die Zahlensammlung rasch ins Smartphone abgetippt, um sie später in Ruhe nachzuschlagen.

Und ich sollte recht behalten: Die Liste hält eine wahre Fülle synthetischer Farbstoffe bereit, die auf den ersten Blick klangvolle, optimistische Namen haben:

  • E 104 Chinolingelb
  • E 110 Gelborange S
  • E 122 Azorubin
  • E 124 Cochenillerot A
  • E 131 Patentblau V
  • E 132 Indigotin
  • E 133 Brilliantblau FCF
  • E 142 Grün S
  • E 151 Brilliantschwarz BN

All diese Stoffe sind organische Verbindungen, und die Stoffklassen, welchen sie angehören, sind mir (und wohl jedem anderen Chemiker) aus dem Studium wohlbekannt: Zu den sogenannten Triphenylmethan-Farbstoffen zählen viele bekannte Indikatoren, zum Beispiel das Phenolphthalein, aber auch Patentblau V, Brilliantblau FCF und Grün S (E 131, 133 und 142). Einen Vertreter der sogenannten Azofarbstoffe, zu welchen E 110, E 122, E124, E 132 und E 151 zählen, habe ich einst sogar selbst im Labor synthetisiert. Dabei sind mir als sicherheitsbewusster Chemikerin neben den strahlenden Farben besonders diese Eigenschaften dieser Stoffe in Erinnerung geblieben: giftig, potentiell krebserzeugend, überaus wasserlöslich und damit im Handumdrehen überall verteilt. Und sowas sollte für Lebensmittel zugelassen sein?

Aber welche organischen Verbindungen sind eigentlich farbig? Kann man Farbstoffe nach Wunsch „erfinden“? Und wie gesundheitsschädlich sind die synthetischen Ostereier-Farben wirklich? Sollte man sie meiden?

 

Welche organischen Moleküle sind farbig?

Unser Eindruck von Farbigkeit organischer Stoffe entsteht genauso wie bei allen anderen Stoffen auch. In „Farben, Licht und Glanz – Wie die Welt uns bunt erscheint“ habe ich bereits vom Aufbau der Elektronenhülle von Atomen erzählt, innerhalb welcher Elektronen von Etage zu Etage „umziehen“ können, indem sie Licht mit einer genau passenden Wellenlänge schlucken. Was dann vom einstmals weiss erscheinenden Gemisch aller Licht-Wellenlängen übrig bleibt, bestimmt die Farbe, die wir sehen – nämlich die Komplementärfarbe zur geschluckten Wellenlänge.

Farbig sind also solche Teilchen, in deren Elektronenhülle es Abstände zwischen Energieniveaus („Etagen“) gibt, welche durch das Schlucken von Licht-Wellenlängen im sichtbaren Bereich überbrückt werden können. In einem Molekül, in welchem die Atome über Elektronenpaarbindungen miteinander verbunden sind, teilen die Atome gemeinsame Energieniveaus, welche ihrerseits in „Wohneinheiten“, sogenannte Orbitale, für je zwei Elektronen unterteilt sind. Und (nicht nur) für organische Moleküle gilt die Faustregel:

Die Abstände zwischen Energieniveaus liegen dann im sichtbaren Bereich, wenn sich viele Elektronen „Wohngemeinschaften“, also miteinander verbundene „Wohneinheiten“ bzw. Orbitale teilen – in der Chemikersprache gesagt: wenn die Elektronen „delokalisiert“ sind.

In den üblichen Einfach-Elektronenpaarbindungen bleibt allerdings jedes Elektronenpaar unter sich. Erst wenn Doppelbindungen vorkommen, wird die Sache interessant. Denn eine Doppelbindung kann man sich dergestalt vorstellen, dass eine zweite Bindung eine Einfachbindung zwischen zwei Atomen ähnlich einem Schlauch umgibt – und an beiden Enden ein gutes Stück darüber hinaus ragt. Wenn nun zwei Doppelbindungen auftreten, welche nur durch eine Einfachbindung voneinander getrennt sind, können die „überstehenden“ Enden der beiden Doppelbindungen miteinander verschmelzen, sodass die darin enthaltenen vier Elektronen sich entlang aller vier beteiligten Atome bewegen können – also delokalisiert sind.

Sich abwechselnde Doppel- und Einfachbindungen entsprechen also einer für farbige Stoffe massgeblichen atomaren „Wohngemeinschaft“.

Das bedeutet: Es lässt sich an der Lewis- oder Strichformel eines organischen Stoffes abschätzen, inwieweit dieser farbig ist! Dabei gilt grundsätzlich: Je mehr sich abwechselnde Doppel- und Einfach-Bindungen ein Molekül enthält, d.h. je weiter die enthaltenen Elektronen delokalisiert sind, desto farbiger ist der entsprechende Stoff.

Darüber hinaus kann die Farbe eines Stoffes weiter intensiviert werden, wenn das Molekül bestimmte Atomgruppen enthält, die an und für sich schon farbig sind. Eine solche „Chromophor“ genannte Atomgruppe ist die aus zwei Stickstoffatomen bestehende Azogruppe, -N=N-, welche den Azo-Farbstoffen ihren Namen gegeben hat.

 

Wie organische Farbstoffe aufgebaut sind

In einem typischen Farbstoffmolekül sind eine oder mehrere chromophore Gruppen in ein System aus sich abwechselnden Doppel- und Einfachbindungen eingegliedert. Nicht selten sind aromatische Ringe – meist sechseckige „Benzol-Ringe“ aus sechs Kohlenstoff-Atomen – Teil dieses Systems, da diese in ganz besonderer Weise delokalisierte Elektronen aufweisen. Da eben diese Besonderheit die aromatischen Ringe jedoch in vielerlei Hinsicht unreaktiv macht, enthalten gute Farbstoff-Moleküle überdies besonders reaktionsfreudige Atomgruppen, die mit anderen Stoffen feste Bindungen eingehen und dem Farbstoff so erlauben, am zu färbenden Material – zum Beispiel Textilfasern oder Eierschalen – möglichst waschecht zu haften. Solche Gruppen werden „Auxochrome“ – Farbhelfer – genannt.

Azorubin und Brilliantschwarz_BN

Azorubin (linke Formel) ist ein typischer Azofarbstoff, dessen Azogruppe (hellblau gerahmt) zwischen zwei aromatischen Ringen zu finden ist. Doppel- und Einfachbindungen wechseln sich in diesem System also über alle vier Ringe und die Azogruppe hinweg ab. Am Rand des Moleküls finden sich als Auxochrome mehrere Sulfonsäure-Gruppen (rosa gerahmt, dargestellt als Natrium-Salz). Eine Sulfonsäure-Gruppe ist nichts anderes als ein Teil eines Schwefelsäure-Moleküls, welcher mit dem Kohlenstoff-Gerüst des Farbstoffs verknüpft ist. Dementsprechend können diese Gruppen ähnlich wie Schwefelsäure sowohl Ionen- bzw. Säure-Base-Reaktionen eingehen, als auch Ester und andere feste Verknüpfungen über Elektronenpaar-Bindungen bilden. Sulfonsäuren, besser noch ihre Salze, sind also sowohl wasserlöslich als auch in der Lage, feste Bindungen einzugehen.

Die rechte Formel lässt überdies die Bedeutung der Chromophore erahnen: Brilliantschwarz – Schwarz als intensivste „Farbe“ ergibt sich, wenn sämtliche sichtbaren Lichtwellen geschluckt werden – enthält statt einer Azo-Gruppe gleich zwei – und der Stoff ist nicht bloss intensiv farbig, sondern schwarz.

Auch Triphenylmethan-Farbstoffe enthalten aromatische Ringe – wenn solch ein Ring an etwas anderes gebunden ist, nennen die Chemiker ihn „Phenyl-Gruppe“ – aber keine weiteren chromophoren Gruppen. Das Grundgerüst dieser Farbstoffe entspricht also einem Methanmolekül (CH4), in welchem drei der Wasserstoff-Atome durch Phenyl-Gruppen ersetzt sind (links im Bild die Strukturformel für „Triphenylmethan“, welches diesen Farbstoffen ihren Namen gibt). Auch im rechts gezeigten Patentblau V finden sich Sulfonsäuregruppen als Auxochrome.

Triphenylmethan und Patent_blue_V

Die Eigenschaften solcher Farbstoffe lassen sich nicht nur auf diese Weise aus den Strukturformeln ablesen.  Die Regeln der Chemie zur Farberscheinung und zu anderen Eigenschaften sind gar so präzise, dass Chemiker die Farbe eines Moleküls ausrechnen – bzw. sich ein Molekül mit der gewünschten Farbe und weiteren Eigenschaften ausdenken können! Da liegt es nahe, für Ostereier und andere Lebensmittel Farbstoffe zu designen, die sowohl die gewünschten Farben haben, als auch unschädlich für den menschlichen Körper sind.

 

Aber wie gesundheits(un)schädlich sind diese Designer-Farbstoffe wirklich?

Aufnahme und Anreicherung von Lebensmittelfarbstoffen

Der ideale Lebensmittelfarbstoff wird auf seinem Weg durch den Verdauungstrakt gar nicht erst vom Körper aufgenommen und unverändert wieder ausgeschieden. An dieses Ideal kommen die Triphenylmethan-Farbstoffe unter den Ostereierfarben nahe heran: Sie werden weder vom Körper aufgenommen, noch im Verdauungstrakt gespalten oder anderweitig verändert. Die auxochromen Gruppen erweisen sich in diesem Zusammenhang wiederum als nützlich: Aufgrund der guten Wasserlöslichkeit der Moleküle besteht überdies kaum Gefahr, dass diese sich – über längere Zeit aufgenommen – irgendwo im Körper anreichern.

Etwas anders sieht es bei den Azofarbstoffen aus, da der menschliche Organismus in der Lage ist, die Azo-Gruppe solcher Moleküle zu spalten. Somit müssen also nicht nur die Moleküle selbst, sondern auch die Bruchstücke unbedenklich sein. Und unter den Bruchstücken von Azo-Farbstoffen sind aromatische Amine, also solche, die neben einem Benzol-Ring auch eine zusätzliche Stickstoff-Gruppe enthalten, für eine krebserzeugende Wirkung berüchtigt. Jener Azo-Farbstoff, den ich einst im Labor synthetisiert habe, mag ein solches Fragment enthalten haben. Die Lebensmittelfarbstoffe enthalten derlei jedoch aus gutem Grund nicht. Ihre Bruchstücke sind harmlos und werden problemlos wieder ausgeschieden.

Allergische Reaktionen

Nichts desto trotz sind alle „Designer-Stoffe“, zu welchen die synthetischen Lebensmittel-Farbstoffe zählen, aus Sicht des menschlichen Körpers „Fremdstoffe“, welche pseudoallergische Reaktionen auslösen können. Dabei handelt es sich um unspezifische Abwehrreaktionen auf die Gegenwart eines Fremdstoffs: Wie bei einer Allergie können Entzündungssymptome auftreten, von Hautauschlag (Neurodermitis) bis hin zu Asthma. Das Ausmass dieser Symptome hängt dabei von der jeweiligen Dosis des Auslösers ab. Das heisst, ausreichend geringe Mengen des Auslösers werden mitunter gar keine spürbare allergische Reaktion auslösen.

Im Unterschied dazu werden bei einer „echten“ Allergie Antikörper gegen den Auslöser (das „Allergen“) gebildet, welche  das Immunsystem in Gang setzen und so die Abwehrreaktion auslösen. Da dieser Weg der Abwehr nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip funktioniert, können schon kleine Mengen eines Allergens eine heftige Reaktion nach sich ziehen.

Pseudoallergische Reaktionen auf Farbstoffe können also durch die Verwendung ausreichend kleiner Mengen weitgehend vermieden werden. Allerdings ist z.B. bei Personen, die auch auf den Aspirin-Wirkstoff Acetylsalicylsäure pseudoallergisch reagieren, häufig eine besondere Empfindlichkeit gegenüber Lebensmittelfarbstoffen beobachtet worden.

Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen

Seit 2007 ist eine Studie populär, die einen Zusammenhang zwischen der Aufnahme von Lebensmittelfarben aus der Gruppe der Azo-Farbstoffe und Hyperaktivität bzw. Konzentrationsstörungen von Kindern festgestellt haben will. Nach dem Arbeitsort ihrer Autoren wird diese Studie kurz als „Southhampton-Studie“ bezeichnet. Sie führte dazu, dass in der EU in jüngster Zeit eine Kennzeichnungspflicht für Lebensmittel mit Azo-Farbstoffen eingeführt worden ist: Solche Produkte müssen neuerdings eine Aufschrift „kann Aktivität und Aufmerksamkeit bei Kindern beeinträchtigen“ tragen. Ostereier-Farben sind übrigens davon ausgenommen – die bunten Eierschalen werden schliesslich nicht verzehrt, heisst es – weshalb ich auf den Verpackungen „meines“ deutschen Herstellers auch keinen solchen Hinweis gefunden habe.

Das Schweizer Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) bezeichnet die Southampton-Studie allerdings in vielen Punkten als unwissenschaftlich (die Kritikpunkte reichen von der Erhebung von Daten durch ungeschultes, nicht neutrales Personal bis zu unklaren Messgrössen und Untersuchungsgegenständen) und die Schlussfolgerungen daraus als widerlegt. Aus diesem Grund, so das BLV, gibt es in der Schweiz keine entsprechende Kennzeichnungspflicht.

Das Verhalten von Kindern bzw. Schülern ist ebenfalls Forschungsgegenstand in der Erziehungswissenschaft und Didaktik. So habe ich aus meiner Literatur aus der Lehrerausbildung den Eindruck gewonnen, dass wohl kaum ein Forschungsgegenstand schwieriger zu erfassen ist, als Einflüsse von Massnahmen – seien es Chemikalien oder Unterrichtsmethoden – auf das Verhalten von Kindern. Deshalb erfordern der Entwurf, die Durchführung und nicht zuletzt die Auswertung derartiger Studien in meinen Augen allerhöchste Sorgfalt und Vorsicht, sodass ich dazu neige, dem BLV und seinen Kritikpunkten in Sachen Lebensmittelfarbstoffen bei zu pflichten.

Insbesondere einen Zusammenhang zwischen Lebensmittelfarbstoffen und dem als ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom) bezeichneten Syndrom, welches gerne in diesem Kontext genannt wird, kann ich nicht nachvollziehen. Viel einleuchtender erscheint mir da, dass pseudoallergischer Juckreiz und ähnliche Reaktionen Kinder unruhig und unaufmerksam werden lassen.

 

Welche Alternativen gibt es zu synthetischen Ostereier-Farben?

Es liegt mir fern, die synthetischen Ostereier-Farben als „gut“ oder „schlecht“ abzustempeln. Vielmehr möchte ich Hintergrundwissen liefern, anhand dessen jeder selbst entscheiden mag, was für ihn, sie oder seine/ihre Kinder das Beste ist. Auf diesem Grundsatz – jeder hat das Recht selbst zu entscheiden, was er verwendet oder gar zu sich nimmt – basiert in meinen Augen auch unser Lebensmittelrecht, sowohl in der Schweiz als auch in der EU, welches die Auflistung von Inhaltsstoffen auf der Verpackung von Lebensmitteln und anderen Waren vorschreibt.

Nach allem, was ich nun gelesen habe, sehe ich keinen Grund zu der Annahme, dass synthetische Ostereier-Farben per se gefährlich sein bzw. unweigerlich krank machen sollten. Ganz und gar unbedenklich sind sie deshalb aber noch lange nicht – nicht zuletzt, weil jeder Körper anders auf einen Stoff reagieren kann. Das gilt übrigens für viele sogenannte Naturstoffe ebenso wie für synthetische Verbindungen, denn auch die meisten Naturstoffe sind aus Sicht des menschlichen Körpers letztlich Fremdstoffe. Und Allergien – auch „echte“ – auf „ganz normale“ Lebensmittelbestandteile sind uns zu Genüge bekannt.

Wer sich schliesslich für die Naturstoff-Variante für seine Ostereier entscheidet, kann eine ganze Reihe wunderschöner Naturfarbstoffe in Lebensmittel-Pflanzen wie Rote Bete (in der Schweiz „Rande“) (rot), Curcuma (gelb), Spinat (grün), Zwiebelschalen (braungelb) oder Rotkohl bzw. Blaukraut (blauviolett) finden.

Eine tolle Anleitung zum Färben mit diesen Farbstoffen und Verzieren der Eier mit Essig-Mustern gibt es auf der Website von GEOLino. Und die dort gezeigten Eier sind fast so strahlend bunt wie die synthetischen Designerfarben – der wärmeren Farbtöne wegen finde ich sie sogar schöner als jene, die auf den Verpackungen der synthetischen Färbemittel abgebildet waren!

Ob nun synthetisch oder mit Naturstoff-Eiern: Ich wünsche euch frohe, farbenreiche Ostern!

Und womit färbt ihr eure Ostereier?

Chemie beim Zahnarzt

Hallo und auf ein Neues! Ich bin Zahn Einssechs („16“), Kathis erster grosser Backenzahn oben rechts (aus Sicht aller anderen oben links), und ich darf euch heute endlich mein Versprechen einlösen und meine Geschichte fertig erzählen. Die ist nämlich so lang, dass ich die erste Hälfte im Dezember 2015 bei Maike auf Miss Declare geschildert habe.

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Morgen kommt der Weihnachtsmann….Okay. Eigentlich ist es erst in 18 Tagen soweit. Aber heute, am 6. Dezember, ist mir der Nikolaus – oder Samichlaus (oder doch der Weihnachtsmann?) – schon über den Weg gelaufen…in ungewöhnlich kleiner Gestalt:

Kinesin animiert

Da spaziert doch tatsächlich ein Molekül(!) in aller Ruhe einen mikroskopischen Schlauch entlang – und schleppt einen Riesensack voller Geschenke hinter sich her! Und die Diskussionen, worum es sich bei diesem Weihnachtsmann a miniature wirklich handelt, schlagen im weltweiten Netz hohe Wellen.

Adventskränzchen 2019
Dieser Beitrag ist Teil des Adventskränzchen 2019:
Das Thema des Tages ist, wie sollte es anders sein, „Nikolaus“.
Weitere Beiträge zum Tagesthema findet ihr hier:
http://cosmic-blue.jimdofree.com
http://imaginary-lights.net

In mir hat der Anblick des molekularen Weihnachtsmanns (und ich konnte mich kaum mehr davon losreissen) vor allem wachgerufen, weshalb ich im Laufe meiner Studienzeit der Biochemie verfallen bin: Die vielfältigen und zuweilen schier unglaublichen Funktionsmöglichkeiten von Biomolekülen sind einfach atemberaubend. Beflügelt von solchen Erinnerungen war dieser kleine Weihnachtsmann nach einem eingehenden Blick ins Biochemie-Buch [1] auch schnell identifiziert:

Die Identität des molekularen Weihnachtsmanns

Bei dem spazierenden lachsfarbenen Gebilde handelt es sich um ein sogenanntes Motorprotein namens Kinesin, also eine lange Kette aneinander gebundener Aminosäuren, die zu einer ganz bestimmten Form zusammengelegt, -gezwirbelt und -geknäuelt ist – etwa wie ein Luftballon-Tier, das aus einem schlauchförmigen Ballon geknotet wird. Streng genommen besteht das Kinesin sogar aus zwei solcher Ketten, die miteinander verdrillt sind (wenn man den langen, aufrechten Schaft genau ansieht, kann man die zwei Stränge einer Doppelspirale erkennen).

Ein Kinesin-Molekül ist natürlich nicht lachsfarben. Vielmehr zeigt die Animation ein Modell, das sich bestmöglich von seinem grünen Hintergrund abheben soll. Die Gestalter der Animation haben die Farben also bewusst komplementär gewählt…und dabei zufällig eine weihnachtliche Ader bewiesen.

Die hellgrüne „Strasse“, die das Kinesin entlangschreitet, ist ein Mikrotubulus, eine aus zahllosen Exemplaren des Proteins Tubulin zusammengesetzte molekulare Röhre. Die einzelnen rundlichen Tubuline, die sich wie Pflastersteine aneinanderreihen, sind in der Animation gut zu erkennen. Das Kinesin und seine Mikrotubulus-Strasse sind so geschaffen, dass dieses Motor-Protein nur vom Zellinneren in Richtung Zell-Aussenhaut laufen kann.

Nur so kann sich Kinesin nämlich als anständiger Weihnachtsmann betätigen: Es transportiert seinen Sack voller Geschenke, die in den Organellen im Zellinneren hergestellt worden sind, stets zur äusseren Zellmembran, wo sie hinausgeschafft und auf ihre weitere Reise zu ihren hoch erfreuten Empfängern geschickt werden können.

Der Geschenke-Sack wird in dieser Animation als grosse Kugel aus wogenden, dunkelgrünen Stoppeln dargestellt. Es handelt sich um eine geschlossene Blase (die Zellbiologen sagen Vesikel) aus Zellmembran, die sich ihrerseits aus unzähligen Molekülen, den Membranlipiden, zusammensetzt. Jedes dunkelgrüne Härchen ist ein solches längliches Lipid-Molekül. Und wie es sich für eine anständige Zellmembran gehört, stecken zwischen all den Lipiden ab und zu lachsfarben dargestellte Membran-Proteine, die der Membran zur Durchlässigkeit für Nährstoffe und Signale verleihen.

Das eigentlich faszinierende an dieser Darstellung ist in meinen jedoch das ständige Wogen der Moleküle. Denn anders als all die starren Zeichnungen in Biologie- und Biochemie-Büchern vermuten lassen, ist eine Zellmembran alles andere als ein starres Gebilde. Stattdessen sind ihre Bausteine ständig in Bewegung, was die Bestandteile einer Zelle zu einer ziemlich dynamischen, geradezu fliessenden Gemeinschaft macht.

Dass der gewaltige, mit Molekülen vollgepackte Sack irgendwie hinter dem Kinesin her zu schweben scheint, ist all den Kleinstmolekülen in seiner Umgebung zu verdanken, die die Animation nicht zeigt. Die meisten dieser Kleinstmoleküle sind Wasser-Moleküle, dazu kommen Ionen und verschiedene allgegenwärtige Verbindungen, die den scheinbar leeren Raum im Bild vollkommen ausfüllen. Was immer sich in der Zelle bewegt, schwimmt praktisch durch ihr Innenleben. Und wer schon einmal im Schwimmbad war weiss, wie sehr der Auftrieb der Schwerkraft entgegenwirken kann.

Wie kann ein Molekül laufen?!

Der Spaziergang des Kinesins auf seinem Mikrotubulus wirkt wohl deshalb so geheimnisvoll, weil die Animation nicht zeigt, wie es seinen Treibstoff erhält. Denn jeder Motor, auch ein molekularer, braucht nunmal seinen Treibstoff, sonst bewegt sich gar nichts. Und der Treibstoff für laufende Moleküle ist chemische Energie, die in lebenden Zellen in dem energiereichen Molekül Adenosintriphosphat (kurz ATP) gespeichert und transportiert wird.

Jeder „Fuss“ des Kinesins hat deshalb eine Bindestelle für ATP. Vor Beginn seiner Arbeit sind an diesen Bindungsstellen „entleerte“ Versionen des ATPs, genannt Adenosindiphosphat (ADP) gebunden. Ein gebundenes ADP sorgt dafür, dass der Fuss eines frei schwimmenden Kinesin-Moleküls, sobald er in die Nähe eines Mikrotubulus‘ gerät, locker daran haften bleibt – ähnlich wie ein Magnetstiefel, mit welchen Star-Trek-Helden bei Schwerelosigkeit über die Aussenhülle ihres Raumschiffes stapfen können. Sobald das geschieht, kann das ADP aus der Bindungsstelle entfernt und durch ein frisches, energiereiches ATP ersetzt werden.

Die Bindung des ATP sorgt für zwei Dinge: Zum Einen wird die Haftung des bereits platzierten Fusses am Mikrotubulus verstärkt. Zum Anderen geht mit dem Austausch von ADP gegen ATP eine Verschiebung der Position der einzelnen Molekülgruppen des Proteins einher. Dies ist möglich, weil einzelne Atomgruppen stets um chemische Bindungen herum gedreht werden können (wer schon einmal ein Molekülmodell zum Zusammenstecken in der Hand hatte: Die Drehbarkeit der Bauelemente um die Bindungsachsen ist in der Regel realistisch!).

Im Fall des Kinesins besteht die Positionsverschiebung darin, dass das zunächst nach vorn abgespreizte Beinchen des Proteins, „neck linker“ genannt, eng an den zugehörigen Fuss angelegt wird. Da der Fuss jedoch fest am Mikrotubulus verankert ist, zieht das Molekül nicht etwa den Fuss zurück, sondern das Molekül wird unweigerlich an den Fuss gezogen. Der zweite, immernoch mit ADP bestückte Fuss wird durch diese Bewegung nach vorn geschleudert und trifft dort, von seinem eigenen neck linker dirigiert, am Mikrotubulus Halt.

Während der zweite Fuss am Mikrotubulus Halt findet, wird das ATP am ersten Fuss gespalten, wobei ADP und ein Phosphat-Anion (das Anion der aus der anorganischen Chemie bekannten Phosporsäure, oft mit dem Kürzel Pa oder Pi (für „anorganisch“ bzw. „inorganic“) bezeichnet) entstehen. Mit der Abgabe des Phosphat-Anions löst sich der erste Fuss samt ADP vom Mikrotubulus, während das ADP im zweiten Fuss gegen ATP ausgetauscht wird, welches dessen Bindung festigt und den nächsten Schritt antreibt.

Eine schematische Animation dieser Schrittfolge mitsamt dem dafür nötigen Treibstoff gibt es als Beiwerk zu einem grossen Lehrbuch über Zellbiologie [2]:

Die Koordination der beiden Haft-Füsse ist dabei präzise genug, dass ein Kinesin-Molekül im Mittel etwa 100 Schritte schafft, bevor beide Füsse einmal gleichzeitig die Bodenhaftung verlieren und das Protein samt seiner Last von seinem Mikrotubulus abdriften kann.

Wie schnell läuft dieser Weihnachtsmann?

Entsprechend seiner Dimensionen – der kleine Weihnachtsmann misst wie er da läuft etwa 50 Nanometer (Milliardstel Meter!) an Höhe [2] – beträgt die Schrittweite des Kinesins im Mittel rund 8 Nanometer[1]. Zum Vergleich: die Wellenlänge von sichtbarem Licht beträgt 390 bis 780 Nanometer, der Durchmesser eines Atoms in einem organischen Molekül wie diesem liegt in der Grössenordnung von 0,1 Nanometern.

Die Physik schreibt vor, dass man Dinge, die kleiner sind als die Wellenlänge des Lichts, auf herkömmliche Weise nicht sehen kann. Trotzdem können Wissenschaftler Kinesin und andere Proteine direkt beobachten. Dazu verwenden sie entweder ein Elektronenmikroskop (die Wellenlänge von Elektronen ist wesentlich kürzer als die des Lichts und kann somit wesentlich kleinere Dinge sichtbar machen!), wofür die Proteine allerdings „eingefroren“ werden müssen, oder sie beobachten den Geschenke-Sack, der sehr viel grösser ist als der eigentliche molekulare Weihnachtsmann.

Mit der zweiten Methode kann man denn auch zuschauen, wie Membran-Säcke oder andere Lasten mit Hilfe von Kinesin einen Mikrotubulus entlang wandern. Eifrige Protokollanten haben dabei festgehalten, dass ein Kinesin-Molekül im Mittel rund 640 Nanometer in der Sekunde ablaufen kann – das entspricht einer Wellenlänge von orangem Licht oder über 6000 Atomen.

Allerdings ist der Schritt des molekularen Weihnachtsmannes längst nicht so stetig und erhaben wie in der Animation dargestellt. Vielmehr gleicht der Gang des Kinesins einem unsteten Schaufensterbummel: Immer wieder bleibt es für willkürliche Zeitspannen stehen oder gerät gar ins Hinken, wenn seine Füsse und „neck linker“ nicht vollkommen symmetrisch gebaut sind. Wenn man die Strecke, die ein Kinesin-Molekül abläuft, also über der dafür benötigten Zeit in ein Diagramm einträgt, erhält man an Stelle einer schönen Gerade, wie die Animation sie vorgibt, einen treppenartigen Kurvenverlauf (in der englischen Ausgabe von Scienceblogs finden sich solche Original-Diagramme in einem detaillierten Beitrag zur Bewegungsgeschwindigkeit des Kinesins ).

Dieser unstete Gang rührt daher, dass für jeden Schritt ein ATP-Molekül mit einem Fuss des Kinesins reagieren muss. Und es obliegt allein der Wahrscheinlichkeitsrechnung, in welchen Zeitabständen eines der ATP-Moleküle, die frei in der Zelle herumschwimmen, direkt am Fuss vorbeikommt und reagieren kann. Wie bei allen chemischen Prozessen können deshalb selbst die fleissigsten Beobachter nur im Mittel angeben, wie schnell eine Reaktion wie der Gang des Kinesins abläuft.

Was für Geschenke bringt der molekulare Weihnachtsmann?

„Sieht so das Glück aus?“ titelt die Süddeutsche Zeitung in ihrem Beitrag zur Animation, in dessen Rahmen der kleine Weihnachtsmann mir auf Facebook erstmals begegnet ist. Der Titel spielt auf Endorphine als möglichen Inhalt des Membran-Sacks an, also molekulare Wohlfühl-Boten, die als körpereigene Opioide auf das Nervensystem wirken. Und zumindest dieser Teil der ursprünglich auf Twitter verbreiteten Bildbeschreibung ist nicht falsch.

Endorphine sind nämlich sogenannte Neuropeptide, das heisst „Miniatur-Proteine“, deren Ketten nur wenige Dutzend Aminosäuren lang sind und als Signalstoffe an Rezeptoren von Nervenzellen binnen können. Solch kleine Peptide sind zu kurz, als dass sie direkt nach ihrer Herstellung direkt mit einem Adress-Schild „nach draussen“ versehen werden könnten. Deshalb werden sie in der Zelle gemeinsam mit anderen Peptiden in einer gemeinsamen, längeren Kette hergestellt, adressiert und in Membran-Blasen verpackt.

Während der Kinesin-Weihnachtsmann seinen vollen Sack der Zell-Aussenmembran entgegenschleppt, können mit im Sack eingesperrte fleissige Weihnachtselfen-Enzyme die langen Protein-Ketten in Endorphine und andere kurze Peptide zerschneiden. Am Ziel angekommen wird der Membran-Sack schliesslich in die Zellmembran eingefügt, wobei der Inhalt ausserhalb der Zelle „ausgekippt“ wird.

Es ist also durchaus möglich, dass der animierte molekulare Weihnachtsmann genau das tut, was ein anständiger Weihnachtsmann tun sollte: Geschenke bringen, die glücklich machen.

Ebenso gut könnte er andere Neurotransmitter oder Hormone durch seine Zelle schleppen, oder Bausteine, die zur Zellteilung benötigt werden, an ihren Bestimmungsort bringen – je nachdem, in welchen Zusammenhang man das Bild einfügt.

Warum handelt es sich tatsächlich um Kinesin?

In dem Animationsvideo, aus welchem das Bild des molekularen Weihnachtsmanns stammt, wird erläutert, dass es sich um ein Motor-Protein handelt, das sich an Mikrotubuli entlang bewegt.

Doch wo es einen Weihnachtsmann gibt, ist auch der Grinch nicht weit. Das gilt auch für das Innenleben menschlicher Zellen. Der zelluläre Grinch ist ebenfalls ein Motor-Protein. Er heisst Dynein und schleppt seine Geschenke-Säcke in die dem Kinesin entgegengesetzte Richtung die Mikrotubuli entlang: Vom Zelläusseren nach innen. Zu erkennen ist dieses Protein an seiner gedrungenen Gestalt ohne den langen „Schaft“ des Kinesins.

Das in dem ursprünglichen Tweet, welcher zum Beitrag in der Süddeutschen Zeitung führte, erwähnte Myosin ist zwar besser als Muskelbestandteil und -motor bekannt, kommt in einer Variante aber auch zum Lastentransport zum Einsatz. Anders als Kinesin und Dynein bewegen sich diese Myosin-Moleküle jedoch an Aktin-Filamenten entlang, feinen Fasern aus dem Protein Aktin. Im Gegensatz zu Mikrotubuli mit einem Aussendurchmesser von 30 Nanometern sind Aktin-Filamente mit nur 5 Nanometern im Durchmesser wesentlich schmaler[1]. Dafür hat das Myosin-Molekül merklich grössere Füsse als Kinesin [2], sodass die Grössenverhältnisse in einer Animation von Myosin auf Aktin deutlich anders ausfallen müssten als beim gezeigten Kinesin auf einem Mikrotubulus, der tatsächlich etwa halb so dick scheint, wie unser Weihnachtsmann hoch ist.

Alle drei Motor-Proteine spielen tragende Rollen in einem Video aus dem Hoogenraad Lab der Universität Utrecht (in Englisch), in welchem ein Kinesin-Molekül namens „John“ seinen molekularen Geschenkesack ganz im Sinne eines guten Modells durch die Strassen von Utrecht schleift. Auf seinem Weg treten auch der „Grinch“ Dynein und Myosin-Moleküle in Erscheinung. Letztere sind für den Last-Transport auf Aktinfilamenten zuständig, die wie Seitengassen von Mikrotubuli abzweigen:

Zum guten Schluss gibt es den Weihnachtsmann noch einmal musikalisch und in grösserem Zusammenhang:

Lasst euch von den Wundern des Lebens verzaubern und denkt an die kleinen Weihnachtsmänner in euren Zellen, wenn ihr die kommenden Feiertage geniesst. Ohne ihre Geschenke würden wir uns längst nicht so wohl fühlen!

Und ist euch der molekulare Weihnachtsmann auch schon begegnet?

Literatur: 

[1] J.M. Berg, John L.Tymoczko, L.Stryer: Biochemie. Spektrum Akademischer Verlag GmbH, Heidelberg, Berlin 2003

[2] B.Alberts, A.Johnson, J.Lewis, M.Raff, K.Roberts, P.Walter: Molekularbiologie der Zelle. Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 2004

Die Geschichte von Zahn 16 : Chemie beim Zahnarzt

Ich bin Zahn Einssechs („16“), Kathis erster grosser Backenzahn oben rechts (aus Sicht aller anderen oben links) – nach der Zahnformel im 1. Quadranten an Position 6. Ich möchte euch meine Geschichte erzählen, die mich und Kathi mehr als oft genug in eine Zahnarztpraxis geführt hat. Denn dort gibt es so viel spannende Chemie zu entdecken, dass eigentlich gar keine Zeit mehr zum Angsthaben bleibt, wenn man erst angefangen hat, über all diese Stoffe und Vorgänge nachzudenken.

Ich habe sogar so viel zu erzählen, dass Kathi mir zwei Geschichten widmet: Eine ist bei Maike auf MissDeclare erschienen(Kathi und ich danken herzlich dafür, dass wir dort zu Gast sein dürfen!) und die andere erscheint etwas später  hier in Keinsteins Kiste.

So möchte ich heute auf MissDeclare erzählen von:

  1. Karies-Vorbeugung mit Fluoriden
  2. Dem Inhalt der „Spritze“ für die lokale Betäubung
  3. Zement als Zahnfüllung
  4. Amalgam-Füllungen
  5. Inlays und Kronen aus Keramik

 

Und in der zweiten Geschichte geht es dann um:

  1. Diagnostik mit Vitalitätstest und Röntgenbildern
  2. Desinfizierende Spüllösungen
  3. Medikamente zur Behandlung einer Wurzelentzündung
  4. Füllmaterial für Wurzelhalsfüllungen und Provisorien
  5. Kunststoff“-Füllungen aus Komposit-Füllmaterial

Viel Spass bei unserer Gastgeberin und Nachwuchs-Chemikerin Missdeclare wünschen euch

Kathi Keinstein und ihr Zahn Einsechs!

 

26.9.2016: Diese Geschichte ist nun auch ein Beitrag zur Blogparade „Wertvolle Frischekicks für den Morgen danach“ auf Barbertrends.me!

In der laufenden Oktoberfest-Saison ist ein ganz besonderes Tier einmal mehr weit verbreitet zu beobachten. Auch nach der grossen Hochzeitsfeier in der letzten Woche hat ER so manchen Gast am Ende heimgesucht: Der „Kater“. Überhaupt nicht flauschig bringt dieses spezielle Exemplar der Gattung Felis Kopfschmerz, Übelkeit und manch andere Symptome – einen regelrechten Katzenjammer – über jeden, der im Vorfeld allzu reichlich Alkoholisches genossen hat.

Nur wer ist bloss auf die Idee gekommen diese ungeliebten Symptome nach unseren schnurrenden Hausgenossen zu benennen?

Tatsächlich sind Katzen damit nicht weiter verbunden als durch eine Ähnlichkeit bei der Aussprache von Begriffen: So ist dereinst im Studentenjargon der morgendliche „Katarrh“ (wenngleich dieses Wort eigentlich eine Erkältungskrankheit meint) zum ähnlich klingenden „Kater“ umgemünzt worden. Der Katzenjammer ist noch älter: Er entstand in der Zeit Goethes aus dem gar zu ordinären „Kotzen-Jammer“.

Was wir seit Jahrhunderten, oder besser seit Jahrtausenden nach dem Konsum von alkoholischen Getränken erleben, sind letztlich nichts anderes als Vergiftungserscheinungen. Und die reichen je nach Dosis von Enthemmung über zunehmende körperliche und geistige Beeinträchtigungen bis zum Tod. Ausserdem ist eine chronische Vergiftung möglich, die durch regelmässige Aufnahme von Alkohol über lange Zeiträume entsteht.

Aber was läuft in unserem Körper schief, wenn wir Alkohol zu uns nehmen? Warum ist ein „Kater“ so unangenehm? Und was hilft wirklich dagegen?

 

Ethanol ist giftig

Ethanol, wie der „Trinkalkohol“ unter Chemikern genannt ist, wird von Gefahrstoff-Experten nicht als Gift gekennzeichnet. Das ist Substanzen vorbehalten, die schon in kleinsten Mengen gefährliche Wirkung zeigen.

Dennoch ist Ethanol, in ausreichender Menge eingenommen, in vielfältiger Weise giftig. Am schnellsten bekommen das unerwünschte Mikroorganismen zu spüren, denen wir mit alkoholhaltigen Desinfektionsmitteln den Garaus machen. Doch auch für den Menschen ist Ethanol alles andere als gesund. In erster Linie ist er als Nerven- und Lebergift bekannt, wirkt sich darüber hinaus aber auch auf andere Bereiche des Lebens aus.

Einmal getrunken gelangt der Ethanol so gut wie vollständig in den menschlichen Körper hinein, aber auf direktem Weg praktisch nicht mehr wieder hinaus. Nur weniger als 10% können unverstoffwechselt abgeatmet oder mit dem Harn wieder ausgeschieden werden. Ethanol ist nämlich hervorragend mit Wasser mischbar, sodass er sich rasch und ungehindert in alle Körpergewebe (ausser Fettgewebe) verteilen kann. Dazu zählen auch die Plazenta und die Mutterbrust, sodass, was eine werdende oder stillende Mutter trinkt, auch dem Ungeborenen bzw. dem Säugling schaden kann.

 

Aufnahme und Direktwirkung von Ethanol

Etwa 20% des Ethanols, den wir trinken, gelangt direkt vom Magen in das Blut, während rund 80% erst im Dünndarm aufgenommen werden. Damit bleibt dem Fremdstoff Ethanol genügend Zeit um die Magenschleimhaut zu reizen. Das kann wehtun, zu Übelkeit beitragen und damit die erste Abwehr unseres Organismus‘ gegen Giftstoffe fördern: Erbrechen.

So habe ich auf den ersten Schüler-Partys beobachten können, wie die Körper von Mitschülern, die in ihrer Unerfahrenheit zu eilig tranken, eine Flut von Ethanol postwendend auf dem gleichen Weg zurückschickten, den sie gekommen war.

Der im Verdauungstrakt verbleibende Ethanol gelangt rasch durch die Magen- bzw. Dünndarmwand in die Blutbahn und wird darin weiter verteilt. So hemmt Ethanol die Freisetzung der Hormone ADH (AntiDiuretisches Hormon) und Vasopressin, die dafür sorgen, dass der Organismus stets genügend Wasser bei sich behält. Sind diese Hormone Mangelware, zieht es uns alsbald ungehemmt auf die Toilette. Wenn wir auf einer heissen Party ausserdem noch schwitzen, macht sich der unkontrollierte Flüssigkeitsverlust rasch bemerkbar: Durst, Kopfschmerzen, trockene Schleimhäute, Schwindel, Schwächegefühl, Benommenheit können die Folgen sein.

Dazu bewirkt Ethanol eine Erweiterung der äusseren Blutgefässe – vornehmlich in der Haut. Gerötete Wangen und eine „Schnapsnase“ sind offensichtliche Folgen davon. Allerdings wird durch die rege Durchblutung, die auch in kalter Umgebung nicht abnimmt, reichlich Körperwärme abgegeben. Zum Warmhalten taugen alkoholische Getränke entgegen zahlreicher Mythen daher nicht (im Gegenteil: im angetrunkenen Zustand droht die Gefahr einer Unterkühlung!).

All das nehmen jedoch erstaunlich viele Menschen gerne auf sich – womöglich weil Ethanol sich im Hirn ebenso leicht verteilt wie in allen anderen Geweben und dort als Nervengift in Erscheinung tritt. Dabei scheint die erste Wirkung kleiner Mengen als durchaus angenehm empfunden zu werden: Enthemmung, vermindertes Gefahrenbewusstsein…alles scheint leichter zu gehen. Von den unweigerlich damit einhergehenden Störungen der Nerven- und Muskelfunktionen – verlangsamte Reaktionszeit, undeutliche Sprache – Koordinationsschwierigkeiten,… – bekommt man da häufig nicht viel mit.

 

Ethanol wird oxidiert

Der Organismus hingegen bemerkt das schon. Und Funktionsstörungen, bzw. deren Ursache, werden stets schnellstmöglich beseitigt. Da Ethanol allerdings nicht einfach wieder ausgeschieden werden kann, muss er verstoffwechselt, das heisst in chemischen Reaktionen abgebaut werden. Das übernimmt die Leber. Der Ethanol, der dort angeschwemmt wird, wird in den Leberzellen oxidiert (Auf unserer Grillparty erfährst du mehr über diese Art der chemischen Reaktion).

Dazu wird ein Oxidationsmittel benötigt, das Elektronen an Ethanol abgeben kann. Das allgemein gebräuchliche Oxidationsmittel im Körper ist das Molekül-Ion Nicotinamidadenindinucleotid, kurz „NAD+„: Das Enzym Alkohol-Dehydrogenase (ADH) katalysiert die Oxidation des Ethanols durch NAD+ zu Acetaldehyd:

 

 

Bei dieser Reaktion werden also zwei Elektronen und ein Wasserstoffkern (H+) vom Ethanol auf NAD+ übertragen und ein weiterer Wasserstoffkern (H+) „freigesetzt“.

Unglücklicherweise ist Acetaldehyd (CH3CHO) auch giftig. Wie fast alle Gifte kann es Erbrechen auslösen, führt zudem zu Kopfschmerzen und Pulsrasen und schädigt umliegendes Gewebe. Deshalb wird das Acetaldehyd in den Mitochondrien der Leberzellen weiter oxidiert. Das Enzym Aldehyd-Dehydrogenase (AlDH) katalysiert dort die Oxidation des Acetaldehyds zu Essigsäure (CH3COOH):

 

 

Essigsäure, bzw. ihr Anion, das Acetat, ist Bestandteil unseres natürlichen Stoffwechsels und damit fürs Erste unproblematisch.

Für die Oxidation eines Ethanol-Moleküls zu Essigsäure werden zwei Moleküle NAD+ benötigt, die aus dem Vitamin Niacin hergestellt werden und damit nur begrenzt verfügbar sind. Je mehr Ethanol aufgenommen wird, desto mehr NAD+ wird verbraucht und desto mehr NADH sammelt sich an. Das bringt den sonst ausgeglichenen Stoffwechsel gehörig in Schieflage.

 

Redox-Stau und seine Folgen

Normalerweise werden das Oxidationsmittel NAD+ und das Reduktionsmittel NADH im Zuckerstoffwechsel gebraucht: Bei der Glykolyse, die zum Beispiel in arbeitenden Muskeln oder im Gehirn abläuft, wird in mehreren Reaktionsschritten aus Glucose (Traubenzucker) Energie in Form von energiereichen ATP-Molekülen gewonnen. Einer dieser Schritte ist eine Oxidation mit NAD+. Das dabei als „Abfall“ entstehende Pyruvat wird anschliessend mit NADH zu Lactat (dem Anion der Milchsäure) reduziert und NAD+ in diesem Zuge zurückgewonnen.

Das Lactat wird in der Blutbahn in die Leber transportiert, wo es mit NAD+ zu Pyruvat oxidiert und zur Gluconeogenese, einer Folge von Reaktionen zur Herstellung von Glucose, unter welchen eine Reduktion mit NADH  zu finden ist, verwendet. So nimmt die Leber den Muskeln etwas Stoffwechsel-Arbeit ab und gewinnt das dazu nötige Oxidationsmittel gleich selbst zurück.

Cori-Zyklus


Vereinfachte Darstellung des Glucose-Stoffwechsels: Das Oxidationsmittel NAD+ wird sowohl im Rahmen der Gluconeogenese in der Leber als auch im Rahmen der Glykolyse laufend wieder zurückgewonnen.
Wird durch den Abbau von Ethanol in der Leber (links) NAD+ ohne direkten Ersatz reduziert, wird die Oxidation von Lactat zu Pyruvat und damit die Glucose-Erzeugung gehemmt, während die Lactat-Produktion zunächst weiterläuft. Die Folgen sind ein Lactat-Überschuss im Blut (Lactatacidose) und ein zunehmend niedriger Blutzuckerspiegel (Hypoglykämie)

 

Bei der Oxidation von Ethanol funktioniert die Rückgewinnung des Oxidationsmittels jedoch nicht. Sobald die Leber Ethanol abbauen muss, wird NAD+ verbraucht und nicht ersetzt. So fehlt bald das Oxidationsmittel für die Lactat-Oxidation, sodass in der Leber nicht genügend Pyruvat für die Glucose-Herstellung bereitgestellt werden kann.

Das vom Rest des Körpers angelieferte Lactat staut sich so bis in die Blutbahn zurück, sodass der pH-Wert im Blut absinkt (Mediziner nennen diesen Zustand „Lactatacidose“). Dass das unangenehm ist, weiss jeder, der sich schon einmal beim Sport so sehr verausgabt hat, dass seine Muskeln schmerzten. Eine nicht ausreichende Versorgung der Muskeln mit Sauerstoff kann nämlich auch zum Lactat-Stau führen – der allerdings innerhalb von Sekunden behoben wird, sobald man eine Pause macht und wieder zu Atem kommt.

Ein Lactat-Stau durch Alkoholgenuss wird sich hingegen erst wieder auflösen, wenn der Ethanol weitgehend abgebaut und die Stoffwechselwege damit wieder frei sind. Hinzu kommt, dass ohne Glucose aus der Leber der Blutzuckerspiegel absinken kann, sodass andere Organe Energiemangel zu beklagen haben und dies mit verminderter Leistungsfähigkeit quittieren.

 

Eine Laus auf der Leber: Folgen der Essigsäure-Entstehung

Essigsäure bzw. Acetat wird gleich am Ort seiner Entstehung mit dem Hilfsstoff Coenzym A zu dem Molekül Acetyl-CoA zusammengesetzt, welches normalerweise im Citratzyklus zu zwei Molekülen CO2 abgebaut wird, die abgeatmet werden können (das Coenzym A bleibt dabei übrig und wird wiederverwendet). Dieser Essigsäure-Abbau im Citratzyklus erfordert aber NAD+ und erzeugt NADH, sodass der Mangel an ersterem (wie auch der Überschuss an zweiterem) den Abbau von Acetyl-CoA ausbremst. Überschüssige Essigsäure wird daraufhin in sogenannte „Ketonkörper“ verpackt. Das sind Moleküle, die zum Abtransport ins Blut gelangen können, dort aber unglücklicherweise den pH-Wert weiter senken.

Citratzyklus: Rückstau im "Kreisverkehr" trägt zum Kater bei


Abbau von Essigsäure im Citratzyklus (vereinfachte Darstellung): Eine Essigsäure- bzw. Acetylgruppe (enthält 2 C-Atome: C2) ist an Coenzym A gebunden (Acetyl-CoA) und wird von diesem auf Oxalacetat übertragen. Das entstehende Citrat (mit insgesamt 6 C-Atomen) wird im Folgenden oxidiert, wobei Kohlendioxid (CO2) abgespalten wird, ehe der verbleibende Molekülrest mit 4 C-Atomen zu Oxalacetat recycelt wird.
Ein Mangel am Oxidationsmittel NAD+ führt zu einem Rückstau entgegen der gezeigten Reaktionsrichtung, bis über die Entstehung und Einspeisung von Acetyl-CoA hinaus, sodass überschüssige Essigsäure in Ketonkörpern untergebracht werden muss.
nach: TCA cycle By Yikrazuul (Own work) [CC BY 3.0]

Da sich die meisten Stoffwechselreaktionen selbst regulieren, entsteht darüber hinaus weiterer Rückstau: Ein Überschuss an Essigsäure bremst so die Oxidation von Acetaldehyd. Dieses erhält so die Gelegenheit, unkontrolliert mit verschiedenen Proteinen in seiner Umgebung zu reagieren und diese funktionslos zu machen. Im schlimmsten Fall gehen die betroffenen Zellen daran ein, was zu Entzündungserscheinungen im Lebergewebe führt. Wiederholt oder gar dauerhaft auftretend kann eine solche „alkoholische Hepatitis“ die gleichen Langzeitfolgen wie eine Virus-Hepatitis haben.

 

Noch eine Laus: Entgiftung durch Cytochrom P450

Die Leber ist ein auf Entgiftung spezialisiertes Organ. So kann Ethanol auch mit Hilfe des Proteins Cytochrom P450, einer recht universellen Entgiftungsvorrichtung der Leber, abgebaut werden: Dabei wird NADPH, ein dem NADH-ähnliches Molekül, zu NADP+ oxidiert um das Protein zu aktivieren, welches den Ethanol mit molekularem Sauerstoff zu Acetaldehyd und weiter zu Essigsäure oxidieren kann.

Allerdings entstehen dabei auch freie Radikale, also Atome oder Kleinmoleküle, denen einzelne Elektronen fehlen. Solche Teilchen reagieren auf ihrer Suche nach Elektronen blindlinks (radikal eben) mit allem, was ihnen in die Quere kommt, was wiederum zur Schädigung von Biomolekülen, Zellen und Gewebe führt.

Zum Schutz vor Radikalen enthalten Zellen leicht oxidierbare, also Elektronen spendende Moleküle wie Glutathion, die Radikale abfangen und damit unschädlich machen können. Allerdings muss Glutathion nach getaner Arbeit durch Reduktion mit NADPH zurückgewonnen werden. Und NADPH wird bereits durch den Ethanol-Abbau an Cytochrom P450 in Beschlag genommen. So sorgen neben dem Acetaldehyd-Rückstau auch zunehmend nicht-abgefangene Radikale für Stress im Lebergewebe.

Cytochrom P450 erledigt ausserdem den Abbau von vielen Medikamenten und anderen Drogen: Wenn der Alkoholstoffwechsel das Protein in Beschlag nimmt, müssen andere Stoffe warten: Wirkungen von Medikamenten und Drogen können so erheblich verlängert bzw. verstärkt werden.

 

Was hilft wirklich gegen einen Kater?

Da ein „Kater“ nichts anderes ist als eine Vergiftungserscheinung ist, sollte man ihn meiner Meinung nach auch wie eine Vergiftung behandeln und den Körper bei der Entgiftung auf natürlichem Weg unterstützen. Kurz gesagt: „Abwarten und Tee trinken“.

Länger gesagt: Dem Flüssigkeitsverlust kann durch reichliches Trinken (aber keinen Alkohol!) entgegengewirkt werden. Wer mehr als Wasser bei sich behält, kann möglichen Elektrolytverlust durch Erbrechen oder Durchfall mit Salzigem (z.B. klarer Brühe) ausgleichen. Wem das bekannt vorkommt: Tatsächlich ist eine Magen-Darm-Grippe auch nichts anderes als eine Vergiftung: Hierbei entstammen die Giftstoffe jedoch den Krankheitserregern. So ist beim Kater wie bei der Grippe zudem Ruhe an einem gemütlich warmen Ort von Nutzen.

Beim Alkohol spielen zusätzlich der Stoffwechsel-Stau in der Leber und häufige Kopfschmerzen eine Rolle. Sofern Flüssigkeitsausgleich und Ruhe dem Kopfweh nicht ausreichend entgegenwirken, können Kopfschmerztabletten helfen. Allerdings reizen Aspirin, Paracetamol und Co die Magenschleimhaut noch zusätzlich und müssen in der Leber unter den beschriebenen erschwerten Umständen abgebaut werden. Wer keinen Durchfall hat, kann mit Fieberzäpfchen den Magen schonen oder das Erbrechen von Tabletten umgehen – die Leberbelastung bleibt so jedoch die gleiche wie durch Tabletten.

So erachte ich auch alle weiteren Medikamente und Fremdstoffe, die über die Leber verstoffwechselt werden, eher als hinderlich denn als hilfreich. Stattdessen nutze ich das Wirksamste aller Mittel gegen einen Kater: Ich trinke keinen Alkohol.

 

Und wenn es ganz schlimm kommt?

Sollte euch einmal jemand begegnen, der nach übermässigem Alkohol-Genuss schwerwiegende Symptome (Bewusstlosigkeit, Unterkühlung, Dehydrierung, Schock-Anzeichen,…) zeigt oder zu entwickeln droht, sind lebensrettende Sofortmassnahmen und ein Notruf angesagt. Eine schwerwiegende „Alkoholvergiftung“, die Extremform von Rausch und Kater, kann zum Tod (meist durch Atemlähmung – Ethanol ist ein Nervengift!) führen!

 

Und was tut ihr gegen einen Kater?

 

Literatur: 

J.M. Berg, John L.Tymoczko, L.Stryer: Biochemie. Spektrum Akademischer Verlag GmbH, Heidelberg, Berlin 2003

E.Oberdisse, E.Hackenthal, K.Kuschinsky: Pharmakologie und Toxikologie. Springer Verlag, 2013

Vitamine - Schlagwort Nummer 1 in Sachen gesunde Ernährung

Was sind Vitamine? Warum sind Vitamine fett- oder wasserlöslich? Wozu brauchen wir die Vitamine? Warum muss der Mensch Vitamine aufnehmen und wo findet er sie? Kann man zu viele Vitamine haben?

Wer kennt sie nicht, die Aufforderungen wohlmeinender Mütter, wir mögen unser Gemüse und den Salat essen, mit allen Vitaminen, die darin seien? Die zahllosen Fernseh-Werbespots von Herstellern, die ihren Produkten mit dem Unterstreichen eines fantastischen Vitamingehalts einen gesunden Anstrich zu geben suchen?

Wer hat sich hingegen schon gefragt, was das für Stoffe sind, die da so eifrig beworben werden und warum und wozu wir sie eigentlich brauchen? Dieser Artikel soll eine Übersicht über die Vitamine geben, die der Mensch zum Leben benötigt (auch Tiere brauchen Vitamine, aber nicht unbedingt die gleichen wie der Mensch). Dabei liegt der Schwerpunkt jedoch nicht wie auf vielen anderen Seiten bei Tagesbedarf und Mangelsymptomen, sondern auf den Aufgaben der einzelnen Vitamine im Organismus und den Eigenschaften, nach welchen man diese vielfältigen Moleküle ordnet.

Was sind Vitamine?

Vitamine und andere Nahrungsergänzungsmittel liegen hoch im Trend. Die Regale in Supermärkten und Drogerien sind voll davon, und mein Hausarzt hat eine besondere Vorliebe für Vitamin C zur begleitenden Therapie von fast allem. In der Kosmetik-Branche wird Vitamin A als Jungbrunnen für die Haut gehandelt. Aber welche Wunderstoffe verbergen sich hinter diesen kaum aussagekräftigen Buchstabenkürzeln?

Vitamine sind kleine organische Moleküle, die für höhere Tiere (dazu gehört auch der Mensch!) lebenswichtig sind, und die diese Organismen nicht selbst herstellen können.

Der Name rührt übrigens daher, dass man früher irrtümlicherweise alle Vitamine für Amine (eine Stoffklasse, deren Mitglieder mit dem Ammoniak verwandte Stickstoff-Atomgruppen enthalten) hielt und entsprechend aus lat.: vita (Leben) und Amin ein Kunstwort als Bezeichnung schuf.

Und das war es dann auch mit den Gemeinsamkeiten der Vitamine. Tatsächlich verbirgt sich hinter diesem Namen eine Vielzahl verschiedener Stoffe mit ebenso verschiedenen Funktionen.

Welche Vitamine gibt es?

Der menschliche Organismus braucht im Wesentlichen 13 verschiedene Stoffe, die er nicht selbst herstellen kann. Sie alle sind unter verschiedenen Namen und Kürzeln auf Verpackungen von Lebensmitteln oder Vitamin-Präparaten anzutreffen – und natürlich auch in deren Inhalt. Diese 13 Stoffe werden in wasserlösliche und fettlösliche Vitamine eingeteilt.

 

Vitamin A Retinol E 160a (beta-Carotin) fettlöslich
Vitamin B1 Thiamin wasserlöslich
Vitamin B2 Riboflavin E 101 wasserlöslich
Vitamin B3 Niacin wasserlöslich
Vitamin B5 Pantothensäure wasserlöslich
Vitamin B6 Pyridoxin wasserlöslich
Vitamin B7, H Biotin wasserlöslich
Vitamin B9 Folsäure wasserlöslich
Vitamin B12 Cobalamin wasserlöslich
Vitamin C Ascorbinsäure E 300, 301, 302 wasserlöslich
Vitamin D Calciferol fettlöslich
Vitamin E Tocopherol E 306 – 309 fettlöslich
Vitamin K Phyllochinon fettlöslich

Tabelle 1: Die 13 Vitamine für den Menschen (nach [1] und nutri-facts.org)

Warum sind Vitamine fett- oder wasserlöslich?

Eine Lösung im Sinne der Chemie ist ein homogenes Gemisch zweier Stoffe. „Löslichkeit in“ kann bei der Einteilung der Vitamine also auch durch „Mischbarkeit mit“ ersetzt werden. Wie gut sich zwei Stoffe miteinander mischen lassen, hängt von den anziehenden Wechselwirkungen zwischen ihren Molekülen ab.

Polare Bindungen ziehen sich an

Die Natur dieser Wechselwirkungen hängt damit zusammen, wie die Elektronen der Atome in den jeweiligen Molekülen im Molekül verteilt sind. Eine Elektronenpaar-Bindung zwischen zwei Atomen ist nämlich weder so starr noch so symmetrisch, wie der Strich, mit welchem man sie in einer Strukturformel darstellt, es vermuten lässt.

Vielmehr ziehen die verschiedenen Atomsorten „ihre“ Elektronen ungleich stark zu sich hin (diese Eigenschaft wird Elektronegativität genannt: Je höher die Elektronegativität eines Atoms ist, desto stärker zieht es Elektronen an). Das resultiert innerhalb eines Moleküls in einem regelrechten Tauziehen zwischen den Atomen: Das stärkere, an einer Bindung beteiligte Atom zieht „seine“ Bindung zu sich hin, während dem schwächeren Atom am anderen Ende relativ wenig von den Elektronen ebendieser Bindung bleibt.

polare Bindung


Ladungsverteilung entlang einer polaren Bindung: Je dunkler blau eine Fläche, desto wahrscheinlicher ist ein Elektron darin anzutreffen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist rund um das stärkere (elektronegativere) Sauerstoffatom wesentlich grösser als um das schwächere Wasserstoffatom. Delta + und Delta – markieren einen Ladungsüber- oder unterschuss, welcher kleiner ist als die Ladung eines Elektrons.

So „entzogene“ Elektronen können die Kernladung des schwächeren Atoms natürlich nicht mehr ganz ausgleichen, während sie am stärkeren Atom sogar zu einem negativen Ladungsüberschuss führen. Die so entstehenden elektrischen Ladungen betragen nur einen Bruchteil der Ladung eines ganzen Elektrons, haben jedoch gravierende Auswirkungen auf die Eigenschaften eines Moleküls. Denn entgegengesetzte elektrische Ladungen ziehen einander an, was dazu führt, dass Moleküle, die solche verschobenen „polaren“ Bindungen enthalten, einander anziehen: Die Sieger beim atomaren Tauziehen ziehen die Verlierer des nächsten Moleküls an und umgekehrt. Das Resultat ist eine anziehende Wechselwirkung zwischen den Molekülen.

Auch unpolare Bindungen ziehen sich an – auf ganz andere Weise

Doch auch zwischen Molekülen, in welchen die Atome an den Enden ihrer Bindungen gleich „stark“ sind, gibt es eine anziehende Wechselwirkung. Entlang solcher „unpolaren“ Bindungen entstehen äusserst kurzzeitig, jedoch stetig aufs Neue Ladungsunterschiede, wenn die beteiligten Elektronen zwischen den Atomen hin und her schwingen. Und das tun sie andauernd. Die so entstehenden Ladungen für den Augenblick ziehen sich auf ihre ganz eigene Weise gegenseitig an.

Diese beiden Wechselwirkungen sind in einer Weise verschieden, welche dazu führt, dass sie nicht miteinander kompatibel sind. Moleküle verschiedener Sorten lassen sich also nur zueinander bringen, wenn sie vornehmlich zur gleichen Art von Wechselwirkungen befähigt sind.

Wie du die Löslichkeit eines Stoffs an seiner Strukturformel abschätzt

Und diese Befähigung lässt sich an der Strukturformel eines organischen Moleküls abschätzen, wenn man ganz wenige Dinge weiss:

1. Kohlenstoff- und Wasserstoffatome sind in etwa gleich stark.

2. Sauerstoffatome sind sehr stark und gewinnen gegen Kohlenstoff und Wasserstoff immer.

3. Stickstoffatome sind ebenfalls stark und gewinnen gegen Kohlenstoff und Wasserstoff, jedoch nicht gegen Sauerstoff.

4. Moleküle mit polaren und unpolaren Bindungen sind zu Wechselwirkungen beider Art fähig. In kleinen Molekülen überwiegt bei ausgewogener Verteilung unterschiedlicher Bindungen jedoch die polare Wechselwirkung.

Wasser enthält demnach zwei stark polare Bindungen. Es wird sich also gut mit anderen polaren Molekülen mischen lassen. So verwundert es nicht, dass auch die Moleküle der wasserlöslichen Vitamine reichlich polare Bindungen haben, während die fettlöslichen Vitamine über weiter Strecken aus unpolaren Kohlenstoff-Wasserstoff-Ketten bestehen (wie Fette auch).

 

Vitamine_Löslichkeit


Löslichkeit ausgewählter Vitamine:
Ascorbinsäure besitzt über das ganze Molekül verteilt polare Bindungen und ist somit gut mit Wasser mischbar.
Retinol besitzt nur eine polare Bindung, während der grösste Teil des Moleküls aus unpolaren Bindungen aufgebaut ist. Damit lässt sich Retinol nicht mit Wasser, dafür jedoch mit fettartigen Stoffen, die ebenfalls hauptsächlich unpolare Bindungen enthalten, gut mischen.

Wozu brauchen wir die 13 Vitamine?

Die wasserlöslichen Vitamine werden vielerorts gebraucht. Wasser ist im menschlichen Organismus allgegenwärtig, sodass die Mischbarkeit der Vitamine mit Wasser ihre Beweglichkeit und damit ihre Verteilung erheblich fördert.

Die B-Vitamine

Die B-Vitamine sind direkte Vorstufen zur Herstellung von Coenzymen: Enzyme sind hochkomplexe, leistungsstarke Katalysatoren, die hauptsächlich aus Peptidketten – miteinander verbundenen Aminosäuren – bestehen. Diese Ketten lassen sich zu vielfältigen Formen falten und reagieren auf verschiedenste Weise miteinander oder mit ihrer Umgebung.

Peptide können aber nicht alles. Deshalb haben die meisten Enzyme zusätzliche Bestandteile, die keine Peptidketten sind und nach der Herstellung des Proteins angefügt werden müssen. Sind diese Bestandteile kleine organische Moleküle, nennt man sie Coenzyme. Ohne Coenzyme oder andere Zusatz-Bestandteile können viele Enzyme ihre Aufgabe im Stoffwechsel – das Katalysieren von ganz bestimmten Reaktionen – nicht erfüllen. Da oftmals viele verschiedene Enzyme auf das gleiche Coenzym zurückgreifen, ist es von Vorteil, wenn die B-Vitamine im ganzen Organismus verfügbar sind.

Ascorbinsäure (Vitamin C)

Ascorbinsäure ist ein Antioxidans, das zum Beispiel zur Kollagen-Herstellung nötig ist: Kollagen ist ein faserartiges Protein, das wie ein Seil aus drei verdrillten Ketten „geflochten“ ist. Es ist überall dort gefragt, wo Zusammenhalt von Nöten ist: In der Haut, Sehnen, Bändern, Blutgefässwänden, Knochen, aber auch in Zahnfleisch und Zähnen. Damit ein Kollagen-„Seil“ wirklich hält, müssen die Ketten „klebrig“ sein – mit anderen Worten: die einzelnen Ketten – jede ein riesiges Molekül – müssen miteinander wechselwirken. Dazu wird die Aminosäure Prolin an bestimmen Positionen in der Peptidkette des Kollagens mit einer zusätzlichen OH-Gruppe versehen.

OH-Gruppen enthalten eine polare Bindung, die zu einem Extrem der polaren Wechselwirkung fähig ist: Das Sauerstoff-Atom gewinnt das Tauziehen um die O-H-Bindung haushoch, während das Wasserstoff-Atom gleich in doppelter Hinsicht als Verlierer dasteht. Die beiden Elektronen, welche die O-H-Bindung bilden, sind nämlich seine einzigen. So wird der Kern des Wasserstoff-Atoms geradezu entblösst, wenn ein stark elektronegatives Atom wie Sauerstoff diese Bindung zu sich hinzieht. Zum Ausgleich zieht es so entblösste Wasserstoffkerne zu anderen, elektronenreichen Atomen besonders hin. Wenn ein solches Atom ein „ungenutztes“ (nichtbindendes) Elektronenpaar hat, findet der entblösste Wasserstoffkern darin etwas „Deckung“. Das Resultat ist eine vergleichsweise stark anziehende Wechselwirkung, die Wasserstoff-Brücke genannt wird.


Wasserstoff-Brücken zwischen Wassermolekülen: Ein Sauerstoff-Atom ist stark genug um den Kern eines benachbarten Wasserstoff-Atoms zu „entblössen“ – und es hat zwei nichtbindende Elektronenpaare (dargestellt am rechten Molekül), die jeweils einem Wasserstoff-Kern Deckung bieten können. Neben Sauerstoff sind ausserdem nur die Atome der Elemente Stickstoff und Fluor in der Lage Wasserstoffbrücken zu bilden!

Das Kollagen-Seil klebt also über Wasserstoffbrücken zwischen den einzelnen Ketten zusammen. Das Enzym, welches das Anfügen der OH-Gruppen an Prolin katalysiert, die Prolin-Hydroxylase, oxidiert dazu das Prolin und reduziert im Gegenzug das Molekül α-Ketoglutarat (Eine Redox-Reaktion ist eine Elektronenübertragung: Oxidation und Reduktion sind untrennbar miteinander verbunden). Wenn aber einmal kein Prolin zur Hand ist, reduziert das Enzym α-Ketoglutarat und oxidiert dafür sich selbst – und wird damit unbrauchbar. Dann kann Vitamin C (bzw. das Anion der Ascorbinsäure) das Enzym reduzieren (und wird dabei selbst oxidiert) und damit reaktivieren [1].

Ohne Vitamin C würde der Organismus sein Kollagen mangels aktiver Prolin-Hydroxylase zunehmend ohne OH-Gruppen und Wasserstoffbrücken herstellen. Solches Kollagen kann Gewebe nicht gut zusammenhalten, was zu brüchigen Blutgefässen, instabilem Zahnfleisch und anderen Problemen führt, mit anderen Worten zu Skorbut.

 

Die fettlöslichen Vitamine interagieren bei ihren Aufgaben häufig mit anderen fettlöslichen Molekülen, sodass ihnen ihre Mischbarkeit mit solchen zum Vorteil gereicht.

Retinol (Vitamin A)

Retinol ist am Sehvorgang, an Wachstum bzw. Regeneration von Gewebe und an der Fortpflanzung beteiligt. Es ist als Mittel für gute Nachtsicht und Anti-Aging-Wirkstoff für die Haut sehr populär.

Auf der Netzhaut (Retina) im Auge sind lichtempfindliche Zellen, ihrer Form nach „Stäbchen“ genannt, für die Hell-Dunkelsicht verantwortlich. Die Stäbchen enthalten ein Protein namens Rhodopsin, welches ein direkt aus Vitamin A hergestelltes Molekül enthält. Dieses „11-cis-Retinal“ verändert seine Struktur, wenn Licht darauf fällt (es wird zu all-trans-Retinal) und löst damit eine Signalkaskade aus, die letztlich die Information „es ist hell“ an das Gehirn weiterleitet. Wenn bei wenig Licht (nachts halt) die für das Farbensehen zuständigen „Zapfen“-Zellen nicht mehr funktionieren, ist der Mensch ganz auf die Stäbchen angewiesen. Ein Mangel an Vitamin A, also Retinol, zur „Ausrüstung“ der Stäbchen führt deshalb zur zunehmenden Einschränkung unserer Nachtsicht-Fähigkeit. [1],[2].

Cholecalciferol (Vitamin D3)

Cholecalciferol ist die Vorstufe eines Hormons, das den Calcium- und Phosphatstoffwechsel reguliert und damit z.B. für den Einbau von Calcium in die Knochensubstanz unverzichtbar ist. Vitamin-D-Mangel führt somit vor allem zu Störungen des Knochenwachstums, aber auch der Knochenerhaltung. Die Folgen werden bei Kindern im Wachstum als Rachitis, bei Erwachsenen als Osteomalazie bezeichnet [1].

Tocopherol (Vitamin E)

Tocopherol ist ein Antioxidans, das ähnlich wie Vitamin C wirkt, aber im Gegensatz dazu fettlöslich ist. Seine Aufgaben sind das „Fangen“ von Radikalen (hochreaktiven Molekülbruchstücken) und anderen oxidierend wirkenden Stoffen, indem es sie reduziert. Da Vitamin E fettlöslich ist, verrichtet es diese Aufgabe vornehmlich in der Umgebung anderer fettlöslicher Moleküle, wo Vitamin C nicht so leicht hinkommt. Das können Membranlipide (fettähnliche Verbindungen in Zell- und anderen Membranen, Lipidproteine oder unsere Fettdepots sein, die so allesamt vor Schäden durch Oxidation geschützt werden.

Phyllochinon (Vitamin K)

Phyllochinon bzw. Vitamin K (K wie Koagulation = Blutgerinnung) ist als Coenzym an der Biosynthese von Gerinnungsfaktoren, zum Beispiel des Proteins Prothrombin, beteiligt. Unter Einwirkung von Phyllochinon werden bestimmte Aminosäuren am Ende der Peptidkette des Prothrombins so verändert, dass sie fest an Calcium-Ionen binden können. So findet das Prothrombin an der Oberfläche von Blutplättchen an einer Verletzung Halt und kann von dort vorhandenen Enzymen aktiviert werden. Dazu wird ein Teil der Peptidkette (Thrombin) abgespalten und kann seinerseits weitere Gerinnungsfaktoren (z.B. durch Spaltung von Fibrinogen) aktivieren. Ohne Vitamin K würde der Organismus unverändertes Prothrombin herstellen, welches nicht am Ort seiner Bestimmung haften und somit nicht zur Blutgerinnung führen könnte [1].

Warum kann der Körper die Vitamine nicht selbst herstellen?

Dass wir Vitamine zu uns nehmen müssen, ist eine Folge von „Erbkrankheiten“, die sich bei den Vorfahren des Menschen und verschiedener heutiger Tiere vor Jahrmillionen entwickelt haben.

Vitamin C zum Beispiel können die meisten Tiere heutzutage selbst herstellen. Auch beim Menschen und anderen Trockennasenprimaten (also allen Affen sowie Koboldmakis) ist ein Stoffwechselweg dafür entwickelt. Allerdings ist bei gemeinsamen Urahnen dieser Arten (den Menschen eingeschlossen) vor 61-74 Millionen Jahren eine Mutation des Gens für das Enzym L-Gulonolactonoxidase aufgetreten. Dieses Enzym katalysiert den letzten Schritt zur Herstellung von Vitamin C in unserem Organismus. Die Mutation (ein Fehler in der Gensequenz, dem Bauplan für das Enzym) führte dazu, dass die Nachfahren jener Urahnen-Spezies keine funktionsfähige L-Gulonolactonoxidase mehr herstellen können.

Die Ur-Spezies, die diesen Gendefekt entwickelte, hat davon vermutlich nichts mitbekommen, da sie reichlich Vitamin C-haltiges Obst zum fressen hatte. Auch die heutigen Affen leiden gewöhnlich nicht an Vitamin C-Mangel, da sie reichlich ascorbinsäure-reiche Nahrung auf ihrem Speiseplan stehen haben und damit ihre „Erbkrankheit“ ganz unbewusst und sehr erfolgreich selbst „behandeln“. Einzig der Mensch ist zwischenzeitlich auf die abwegige Idee gekommen, er käme ohne Früchte aus und könne z.B. nur mit Schiffszwieback verpflegt über die Weltmeere segeln (bis zahlreiche Todesfälle aufgrund von Skorbut im 18. Jahrhundert zur näheren Beschäftigung mit Nahrungsmittel-Inhaltsstoffen führten). Meerschweinchen, echte Knochenfische, einige Sperlingsvögel und Fledertiere haben übrigens einen ähnlichen Gendefekt und sind daher ebenso auf Vitamin C in der Nahrung angewiesen. [3]

Wie kommen wir zu unseren Vitaminen?

Die meisten Vitamine sind Bestandteile unserer Nahrung. Als Vitamin-Präparate werden sie häufig bei Mangelerscheinungen oder vorsorglich bei unausgewogener Ernährung, erhöhtem Bedarf (Krankheit, Schwangerschaft, Medikamenten-Nebenwirkungen, Stress,…) oder Stoffwechselstörungen zugeführt. Dabei ist zu beachten, dass nur die fettlöslichen Vitamine (und Vitamin B12) in begrenztem Umfang im Organismus gespeichert werden können. Alle anderen müssen sehr regelmässig aufgenommen werden.

Während die meisten B-Vitamine fast ausschliesslich in tierischen Produkten zu finden sind, sind die übrigen zumeist in pflanzlicher Nahrung enthalten. Der Mensch ist also nicht umsonst ein „Allesfresser“ – er braucht all diese Nahrungsmittel gleichermassen.

 

Vitamin A (Retinol) Leber, Eigelb, Milch und Milchprodukte, als Beta-Carotin in Karotten, gelbem und dunkelgrünem Blattgemüse, Palmöl
Vitamin B1 (Thiamin) Brauhefe, Schweinefleisch, Vollkorngetreide, Nüsse, Hülsenfrüchte
Vitamin B2 (Riboflavin) Hefe, Leber, Milch und Milchprodukte, Eier, grünblättrige Gemüse, Fleisch
Vitamin B3 (Niacin) Hefe, Leber, Geflügel, mageres Fleisch, Nüsse, Hülsenfrüchte (Niacin-Verbindungen in Getreide sind für den Menschen nicht verwertbar!)
Vitamin B5 (Pantothensäure) Hefe, Innereien, Eier, Milch und Milchprodukte, Gemüse, Hülsenfrüchte, Vollkorngetreide
Vitamin B6 (Pyridoxin) Huhn, Leber, Fisch, Walnüsse, Erdnüsse, Vollkorngetreide, Mais
Vitamin B7 (Biotin) Hefe, Leber, Niere, Eigelb, Sojabohnen, Nüsse, Getreide
Vitamin B9 (Folsäure) Leber, dunkelgrünes Gemüse, Bohnen, Weizenkeime, Hefe; auch Eigelb, Milch und Milchprodukte, rote Beete, Orangen, Vollkorngetreide
Vitamin B12 (Cobalamin) Leber, Niere, Fisch, Eier, Milch und Milchprodukte
Vitamin C (Ascorbinsäure) Zitrusfrüchte, schwarze Johannisbeere, Paprika, grünes Gemüse, Erdbeere, Guave, Mango, Kiwi
Vitamin D (Calciferol) Sonnenlicht!!, ansonsten: Lebertran, Salzwasserfisch, wenig: Eier, Milch und Milchprodukte, Fleisch
Vitamin E (Tocopherol) Pflanzenöl, Nüsse, Vollkorngetreide, Weizenkeime, Samen, grüne Blattgemüse
Vitamin K (Phyllochinon) Grünblättrige Gemüse, einige Pflanzenöle, Haferflocken, Kartoffeln, Tomaten, Spargel, Milch und Milchprodukte

Tabelle 2: Vorkommen der Vitamine in Nahrungsmitteln nach nutri-facts.org

Die grosse Ausnahme bildet Vitamin D (Calciferol). Dies ist das einzige der beschriebenen 13 Moleküle, das der menschliche Organismus selbst herstellen kann (und damit eigentlich gar kein Vitamin ist). Dass es trotzdem zu den Vitaminen gezählt wird, hängt damit zusammen, dass zur Biosynthese von Calciferol UV-B-Strahlung nötig ist. Und die kommt in der Regel von der Sonne, also von „aussen“.

Vitamin D entsteht in der Haut aus Cholesterin, genauer gesagt aus 7-Dehydrocholesterin. Einfallende UV-B-Strahlung kann einen Ring im 7-Dehydrocholesterin-Molekül öffnen, wodurch Prävitamin D3 entsteht, welches zum eigentlichen Cholecalciferol (Vitamin D3) weiterreagiert. In Leber und Niere kann daraus dann das weiter oben genannte Hormon Calcitriol hergestellt werden [1].

Vitamin-D-Bildung


Biosynthese von Vitamin D und Calcitriol nach [1]

Im Lehrbuch für Biochemie [1] findet sich im Zusammenhang mit der Vitamin-D-Synthese eine Randnotiz, dass bei arabischen Beduinen-Frauen, die ihr Leben in Ganzkörperverhüllung verbringen, die Vitamin-D-Mangelerscheinung Osteomalazie auftritt – und dass, obwohl sie in der stets sonnenverwöhnten Wüste leben. Wer ständig eine Burka trägt ist also gut damit beraten auf eine ausreichende Vitamin-D-Zufuhr durch Nahrungsergänzung zu achten.

Ebenso stehen Vegetarier und vor allem Veganer vor der Herausforderung ihren Bedarf an B-Vitaminen zu decken und gegebenenfalls ihren Speiseplan mit Vitamin-Präparaten zu ergänzen.

Kann man zu viele Vitamine aufnehmen?

Im ersten Semester des Chemiestudiums fand ein Kommilitone im Praktikumslabor eine Kilopackung Ascorbinsäure (in Reinform ein weisses, kristallines Pulver) und fragte unseren Praktikumsassistenten, was denn wohl passieren würde, wenn er löffelweise davon ässe. Der Assistent antwortete: „Nichts“, und fügte hinzu, dass mein Kommilitone allenfalls vielleicht Sodbrennen oder/und Magenschmerzen bekäme, weil mehrere Gramm Ascorbinsäure auf einmal geschluckt vorübergehend zu Magenübersäuerung führen können.

Eine „Vergiftung“ (Hypervitaminose) mit wasserlöslichen Vitaminen ist tatsächlich kaum möglich und tritt allenfalls in exotischen Fällen auf (z.B. Langzeit-Überdosierung von Vitaminpräparaten oder seltene Stoffwechselkrankheiten), da sie im Organismus gut beweglich sind und über die Niere ziemlich ungehindert wieder ausgeschieden werden können.

Bei fettlöslichen Vitaminen sieht das etwas anders aus, denn sie können nicht so einfach über die Niere ausgeschieden werden und sammeln sich im Organismus an. Insbesondere die Vitamine A und D können akute und/oder chronische Vergiftungserscheinungen (bis hin zum Tod) hervorrufen.

Da sich die Vitamin-D-Synthese bei Sonneneinstrahlung jedoch selbst reguliert, kann eine Hypervitaminose D – wie alle anderen Vitamin-„vergiftungen“ – nur durch übermässige Zufuhr von Vitamin-Präparaten verursacht werden. Ebenso verhält es sich mit der Hypervitaminose A (es sei denn, man wäre auf einer Polarexpedition und würde den Fehler machen Eisbärenleber zu essen… Die ersten akuten Vitamin-A-Vergiftungen wurden bei Polarforschern dokumentiert, die eben dies getan hatten [4]).

Zusammenfassung

Der menschliche Organismus benötigt zur Aufrechterhaltung aller Funktionen 13 organische Stoffe, die er nicht eigenständig herstellen kann. Diese Stoffe werden als Vitamine zusammengefasst, obwohl ihre Struktur und Funktionen sehr vielfältig sind. Dabei lassen sich die Vitamine in wasser- und fettlösliche Stoffe ordnen. Die Anzahl und Verteilung von polaren Bindungen in ihren Molekülen lassen eine Einschätzung der Löslichkeit zu. Die Löslichkeit der Vitamine steht im Zusammenhang mit ihren Aufgaben und einer möglichen Giftwirkung bei Überdosierung.

Literatur

[1] Biochemie der Vitamine: J.M. Berg, John L.Tymoczko, L.Stryer: Biochemie. Spektrum Akademischer Verlag GmbH, Heidelberg, Berlin 2003

[2] Überblick über den Stoffwechsel einschliesslich Vitamin-Aufnahme und der Prozesse beim Sehen: S.Silbernagl, A.Despopoulos: Taschenatlas der Physiologie. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 2003

[3] Genetik der Wirbeltiere bezüglich Ascorbinsäure (Vitamin C): G. Drouin, J. R. Godin, B. Pagé: The genetics of vitamin C loss in vertebrates. In: Current genomics. Band 12, Nummer 5, August 2011

[4] Giftigkeit der Vitamine: Dietrich Mebs: Gifttiere – Ein Handbuch für Biologen, Toxikologen, Ärzte und Apotheker. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 1992

Ozon im Smog: Vom Sauerstoff zum Luftschadstoff

Was ist Ozon? Wie entsteht schädliches Ozon? Wann kann Ozon uns schaden? Wann (und wo) ist Ozon für uns lebenswichtig? Und wann ist Ozon ein Heilmittel?

Von Ozon hat sicher jeder schon gehört, und es wurden haufenweise Bücher darüber geschrieben. Warum also über Ozon schreiben? Während der Recherche für diesen Artikel bin ich in der Zentralbibliothek in Zürich gewesen und habe festgestellt, dass der Recherchecomputer mich auf der Suche nach Ozon fast immer ins Magazin mit den Erscheinungen vor 2010 hinunter schickt. Ist das Thema demnach in den letzten Jahren tatsächlich ins Abseits unseres Gedächtnisse geraten? Dabei sind gerade heute die unangenehmen Auswirkungen von Ozon in unserer Atemluft wieder einmal spürbar.

So dreht sich der erste Teil dieses Doppel-Artikels um Ozon als Luftschadstoff, während der zweite Teil euch die nützlichen und sogar für uns lebenswichtigen Eigenschaften dieses Stoffs mit zwei Gesichtern näherbringen soll.

An einem heissen Tag im Juli…

Es ist der 2.7.2015, die Sonne strahlt ungetrübt auf Mitteleuropa hinab. Heute ist ein Werktag. Die Städte sind belebt, es wird gearbeitet, die Strassen sind voller Autos. Und die Tageshöchsttemperaturen reichen in der Region Zürich bis 34°C. Ich habe das Glück in einem Dorf am Zürichsee zu sitzen und mir die Live-Messdaten für Schadstoffe in der Luft in Zürich und vielen Städten Deutschlands im Netz ansehen zu können. Da muss ich mir wegen dem, was ich da sehe, eigentlich weniger Gedanken machen. Die Leute, die in der Stadt unterwegs sind, aber schon.

In Zürich werden heute um die Mittagszeit Stundenmittelwerte von bis zu 174 μg Ozon pro m³ gemessen. In vielen Städten in West- und Südwestdeutschland sind gestern bereits Spitzenwerte um die 200 μg Ozon pro m³ gemessen worden. In Baden-Baden ganz im Süden Baden-Württembergs ist bei über 240 μg Ozon pro m³ sogar Ozon-Alarm ausgelöst worden!

Wer sich bei solchen Konzentrationen draussen bewegt, kann mit Kratzen und Brennen im Hals, Kopfschmerzen und Augenbrennen zu tun bekommen. Diese Symptome haben nicht unbedingt mit einer Sommergrippe zu tun, sondern mit einer Anreicherung des Gases Ozon in der Luft. Denn wir sind für Ozon-Konzentrationen von nur 40 – 80 μg Ozon pro m³ geschaffen…. Aber von Anfang an:

Was ist Ozon?

Ozon ist eine besondere Form (Chemiker sagen „Allotrop“ dazu) des Elements Sauerstoff. Während die üblichen Sauerstoff-Moleküle (O2), die wir atmen, aus je zwei Sauerstoff-Atomen bestehen, besteht ein Ozon-Molekül aus drei Sauerstoffatomen (O3). Deshalb wird Ozon manchmal auch „Trisauerstoff“ genannt.

Sauerstoff_vs_Ozon


Die Strukturformeln von Luftsauerstoff (links) und Ozon (rechts).
Die wahre Struktur des Ozon-Moleküls liegt in der Mitte zwischen den beiden gezeigten Formeln, d.h. beide Bindungen sehen gleich aus und das Molekül ist symmetrisch! Da man in der Formelsprache aber keine 1,5-fach-Bindungen zeichnen kann, geben die Chemiker solche mesomeren Grenzformeln an und meinen „die Wahrheit ist in der Mitte“.
Das Ozon-Molekül ist zudem elektrisch ungeladen. Die gezeigten Formalladungen ergeben sich aus den chemischen Spielregeln für die Verteilung der Elektronenpaare (Striche) auf die Atome und ergeben beim Ozon in der Summe eine Ladung von Null.
Allerdings deutet das Vorhandensein von Formalladungen in der Strukturformel schon darauf hin, dass wir es mit einem reaktionsfreudigen Molekül zu tun haben.

 

Ozon ist, ähnlich wie der Atem-Sauerstoff, ein farbloses bis bläuliches Gas. Dass Ozon nicht zum Atmen taugt, merkt man bei grösseren Mengen allerdings schnell, denn es hat einen unangenehm stechenden, chlorähnlichen Geruch, wie du ihn vielleicht von älteren Fotokopierern oder Laserdruckern kennst. Dieser Geruch kommt nicht von ungefähr, denn Ozon wirkt stark oxidierend und ist dabei alles andere als wählerisch: Es geht mit vielen Stoffen Redox-Reaktionen ein – auch mit den Bestandteilen von Menschen bzw. ihrer Atemwege. Deshalb wird Ozon von den Gefahrstoffexperten als sehr giftig gekennzeichnet.

Nichts desto trotz ist Ozon ein natürlicher Bestandteil unserer Atemluft. Allerdings kommen in der Troposphäre, genauer der planetaren Grenzschicht, dem untersten Teil der Atmosphäre, den wir atmen, in der Natur nur 40 – 80 μg Ozon pro m³ Luft vor. Das entspricht an einem angenehm warmen Tag 40 bis 80 Millionstel Gramm in rund 1,2 Kilogramm Luft!

An diese kleinen Mengen haben sich unsere Körper im Lauf der Jahrhunderttausende langen Geschichte unserer Entwicklung angepasst. Steigt die Ozon-Konzentration jedoch in kurzer Zeit auf über etwa 100 bis 120 μg/m³, wird es unangenehm, und ab etwa 180 bis 200 µg/m³ über mehrere Stunden zunehmend gesundheitsschädlich. Deshalb können wir Ozon in der Atemluft gar nicht brauchen. Deshalb hat die Schweizer Regierung bestimmt, dass die Ozon-Konzentration in der Atemluft nicht über 120 µg/m³ liegen darf. In den EU-Staaten sind sogar nur 110 µg/m³ erlaubt. Und trotzdem werden diese Grenzwerte immer noch sehr oft überschritten.

Wie entsteht Ozon in der Troposphäre?

Wie es dazu kommt, dass sich Ozon in unserer Atemluft ansammelt? Das haben wir uns selbst zuzuschreiben. Zumindest dann, wenn wir mit einem Auto oder anderen Kraftfahrzeug mit Verbrennungsmotor durch die Gegend fahren (oder fliegen), oder unseren Strom mit einem Dieselaggregat herstellen. Denn damit diese Motoren laufen und etwas antreiben können, muss es in ihnen so heiss werden, dass neben dem Treibstoff auch der Stickstoff aus der Luft (und die besteht zu 70% aus Stickstoff!) verbrannt wird. Dabei entsteht aus Stickstoff, der mit Sauerstoff reagiert, das Gas Stickstoffmonoxid (NO):

Normalerweise ist Stickstoff sehr reaktionsträge, d.h. er reagiert freiwillig gar nicht gerne und brennt deshalb auch nur, wenn man ihm ordentlich einheizt. (Wer sich bereits am Flughafen mit Le Châtelier unterhalten hat, dem kommt das vielleicht bekannt vor: Ja, die Reaktion ist Teil eines Gleichgewichts, das im Kolben eines Motors durch einen Zwang, die hohe Temperatur, auf die rechte Seite verschoben wird!) Entsteht dabei erst einmal Stickstoffmonoxid, dann reagiert dieses Gas auf dem Weg durch den Auspuff nach draussen mit mehr Sauerstoff schnell zu Stickstoffdioxid (NO2) weiter.

Das Gas Stickstoffdioxid ist nicht nur seinerseits sehr giftig (das ist eine andere Geschichte…), seine Moleküle sind auch empfindlich gegen Sonnenlicht. So kann ein NO2-Molekül, das von Licht getroffen wird, auseinander fallen:

Wer im Chemie-Unterricht aufgepasst oder sonst Ahnung von Chemie hat, mag jetzt protestieren: Sauerstoff-Atome kommen doch nicht einzeln vor! Deshalb sucht sich dieses Sauerstoff-Atom auch schleunigst ein neues Molekül, mit dem es reagieren kann. Und da Luft zu 78% aus reaktionsträgem Stickstoff und zu gut 20 Prozent aus molekularem Sauerstoff (O2) besteht, ist dieses neue Molekül in der Regel Sauerstoff:

Dies ist der einzige, aber reichlich begangene Weg, auf dem in unserer Atemluft Ozon entsteht. Deshalb steigt die Ozon-Konzentration im Laufe des Vormittags, nachdem sich zahllose Auto- und Lastwagenfahrer auf den Weg zur Arbeit gemacht und reichlich Stickstoffdioxid hinterlassen haben, an sonnigen Tagen schnell an. Und diese Ozon-Ansammlung bleibt uns erhalten, bis die Sonnenstrahlung nachlässt und die Motoren im Feierabendverkehr reichlich neues Stickstoffmonoxid erzeugen, welches statt mit Sauerstoff auch mit dem reaktionsfreudigeren Ozon reagieren kann:

Stickstoffoxide aus Autoabgasen führen zur Entstehung von Ozon


Stickstoffoxide aus Autoabgasen führen zur Entstehung von Ozon:
(1) Kraftfahrzeuge stossen Stickstoffmonoxid aus. Im Berufsverkehr am Morgen und am Abend entsteht besonders viel Stickstoffmonoxid.
(2) Stickstoffmonoxid wird vom Luftsauerstoff oxidiert: Es entsteht Stickstoffdioxid.
(3) Wenn es warm ist, spalten Sonnenstrahlen ein Sauerstoffatom aus dem Stickstoffdioxid ab.
(4) Das Sauerstoffatom reagiert mit Luftsauerstoff zu Ozon.
(5) Wenn Ozon auf Stickstoffmonoxid trifft, reagieren sie miteinander: Es entstehen Sauerstoff und Stickstoffdioxid.

 

Wie du dich vor Ozonbelastung schützen und die Ozonentstehung verhindern kannst

Deshalb empfehlen Umweltbehörden, wie z.B. das deutsche Umweltbundesamt, an Ozon-reichen Tagen erst am späten Nachmittag und Abend Sport zu treiben. Wer darüber hinaus der Ozonbelastung entkommen möchte, sollte sich z.B. im Wald aufhalten: Dort sind meistens wenig bis keine Autos und es ist schattig.

Richtig problematisch wird das Ozon in der Atemluft allerdings, wenn zu allen genannten Umständen eine Inversionswetterlage kommt: Dann liegt eine wärmere Luftschicht über der Schicht, die wir atmen, und hält diese förmlich in Bodennähe fest. Die in den Städten entstehenden Luftschadstoffe – auch das Ozon – können sich nun nicht einmal mehr nach oben hin verteilen. Dieses so angestaute, dunstig-giftige Luftgemisch wird als Sommersmog bezeichnet. Der Begriff kommt aus den USA und setzt sich aus den englischen Wörtern „smoke“ (Rauch) und „fog“ (Nebel) zusammen. In den 1940er-Jahren, als man noch kaum etwas über Ozon wusste, mussten die Bewohner von Los Angeles als erste dieses Phänomen erleben: Der höchste damals dort gemessene Spitzenwert betrug sage und schreibe 1160 μg Ozon pro m³ !

Um solche gemeingefährlichen Ozon-Konzentrationen erst gar nicht mehr entstehen zu lassen, stattet man heute die Autos mit einem 3-Wege- oder einem Denox-Katalysator aus. In so einem Gerät laufen Reaktionen ab, welche einen grossen Teil der Stickstoffoxide aus dem Abgas entfernen, bevor es nach draussen gelangt und zur Ozonentstehung führen kann (Aber das ist eine andere Geschichte….).

Da jedoch auch solche Katalysatoren niemals perfekt arbeiten, kannst du selbst den wirksamsten Beitrag zur Verminderung der Ozon-Konzentration leisten: Fahre -besonders an warmen Sommertagen- nur wenn unbedingt nötig Auto. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln kommt man im Stadtverkehr ohnehin meist viel entspannter durch.

Warum wir trotz allem nicht ohne Ozon leben können

Wie Ozon in die Stratosphäre kommt und uns vor gefährlicher UV-Strahlung schützt, was das Ozonloch ist, und in welcher Weise Ozon heilsam sein kann, erfährst du im zweiten Teil dieses Doppel-Artikels!

Und was tust du bei oder gegen Ozon-Belastung?

(Titelbild: Bearbeitung von Creator:Fidel Gonzalez (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0 oder GFDL], via Wikimedia Commons)

UV-Strahlung aus der Sonne: Sonnencreme kann davor schützen

Die Ferien rücken näher. Wir sehnen uns nach Sonne, Strand und einem kühlen Bad im Meer oder einem See. Doch neben all diesen Freuden erwarten uns auch einmal mehr unangenehme Souvenirs: Sonnenbrand, Hautalterung, und im schlimmsten Fall irgendwann Hautkrebs.

Aber warum wird die Sonne uns gefährlich? Was geschieht bei Sonneneinstrahlung in unserer Haut? Wie können uns UV-Filter in Sonnencreme vor gefährlicher Strahlung schützen? Und inwieweit können diese Inhaltsstoffe uns schaden, wie es derzeit in der Presse die Runde macht?

 

Was ist UV-Strahlung?

Jedes Kind kennt die Bezeichnungen „UV-Schutz“, „UVA“ und „UVB“ von den Verpackungen von Sonnenmilch und anderen Kosmetik-Artikeln. Doch was verbirgt sich eigentlich hinter diesen Buchstaben?
UV steht für ultraviolette Strahlung. Richtig: Das Licht, das wir sehen, ist nicht das einzige, was die Sonne abstrahlt. Tatsächlich macht das sichtbare Licht nur einen sehr kleinen Teil dessen aus, was von der Sonne ausgeht. Das Spektrum – eine geordnete Übersicht der Strahlung – zeigt eine ganze Reihe Strahlungsarten. All diese „Strahlen“ gehören zur gleichen Sorte Wellen (den elektromagnetischen Wellen) und unterscheiden sich nur in ihrer Wellenlänge – bzw. in ihrer Frequenz. Die Frequenz einer Welle ist nämlich umso grösser, je kleiner die Wellenlänge ist. Alle elektromagnetischen Wellen transportieren Energie, und zwar umso mehr, je grösser die Frequenz der Welle (oder je kleiner die Wellenlänge) ist.

1000px-EM-Spektrum.svg

Elektromagnetisches Spektrum: Die Gamma-Strahlen ganz links im Spektrum haben die kürzesten Wellenlängen, die grössten Frequenzen und folglich die meiste Energie, während Langwellen (der Name sagts) am längsten sind, die kleinste Frequenz und am wenigsten Energie haben. [  By EM_spectrum.svg: User:Zedhderivative work: Matt (EM_spectrum.svg) [CC BY-SA 2.5-2.0-1.0, GFDL or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons ]

Die ultraviolette Strahlung finden wir gleich links von dem schmalen Bereich jener Wellen, die wir sehen können. UV-Licht besteht also aus kürzeren Wellen als das sichtbare Licht und hat dem entsprechend mehr Energie.

Und dieses Mehr an Energie ist das Problem. Unser Körper ist für sichtbares Licht geschaffen (immerhin macht sichtbares Licht Chemie in unseren Augen, die uns sehen lässt. Aber das ist eine andere Geschichte…). Strahlung mit mehr Energie als sichtbares Licht bereitet uns hingegen meistens Schwierigkeiten. Und nach Art und Umfang dieser Schwierigkeiten hat man die UV-Strahlen eingeteilt:

UV-A-Strahlen:
• sind mit Wellenlängen von 320 – 400 nm nur wenig kürzer als sichtbares Licht
• können Glas durchdringen, gelangen bis in unsere Lederhaut
• verursachen die Bräunung unserer Haut, aber auch Hautalterung

UV-B-Strahlen:
• sind mit Wellenlängen von 250 – 320 nm energiereicher als UV-A-Strahlen
• dringen nicht durch Glas und nur bis in unsere Oberhaut
• verursachen dort neben Bräunung jedoch auch Sonnenbrand und Hautkrebs

UV-C-Strahlen:
• sind noch energiereicher als UV-B-Strahlen
• können die Erdatmosphäre praktisch nicht durchdringen, wie alle noch energiereicheren  Strahlungsarten übrigens auch, sodass wir uns davor draussen nicht schützen müssen

 

Was bewirken UV-Strahlen in unserer Haut?

Wenn elektromagnetische Wellen auf Atome treffen, können sie ihre Energie an diese Atome abgeben. UV-Strahlen können so die Energie von Elektronen in der Atomhülle erhöhen (Chemiker sagen „anregen“), sodass diese Elektronen auf ein höheres Energieniveau „aufsteigen“ oder sogar die Atomhülle verlassen.

Das ist an sich sehr nützlich, denn viele wichtige chemische Reaktionen, wie z.B. die Herstellung von Vitamin D im menschlichen Körper, laufen nur nach Anregung durch UV-Strahlung ab (aber das ist eine andere Geschichte…).

Gefährlich werden UV-Strahlen dann, wenn Atome getroffen werden, die garnicht reagieren sollen. Und das ist leider meistens der Fall. Die meisten Moleküle in unserem Körper haben nämlich ganz bestimmte Aufgaben und tauschen Atome und Elektronen auf ganz bestimmten Wegen. UV-Strahlung ist jedoch nicht wählerisch und regt an, was ihr gerade passt. Wenn dabei ein einzelnes Elektron von seinem Atom getrennt wird, bleibt das Atom – bzw. das Molekül, zu welchem das Atom gehört – mit unvollständiger Elektronenhülle zurück. Ein Radikal ist entstanden, und Radikale neigen dazu, auf der Suche nach Ersatz für ihr fehlendes Elektron mit allem zu reagieren, was ihnen in die Quere kommt.

UV-Strahlen können also in unserer Körperchemie ein gehöriges Durcheinander anrichten. Unserer Haut passt chemisches Durcheinander aber gar nicht, was sie durch Rötung, Erhitzung und Schmerzen deutlich kundtut. Das bedeutet Stress, und Stress macht bekanntlich müde, sodass ausdauernd sonnenbestrahlte Haut ziemlich schnell alt aussieht.

Am schwersten trifft es uns, wenn die UV-Strahlung unsere DNA trifft, jene Riesenmoleküle im Kern unserer Zellen, in denen unsere Erbinformation gespeichert ist. Wenn ein DNA-Molekül beschädigt ist, werden die Daten über Aufbau und Funktion der Zelle fehlerhaft kopiert oder ausgelesen, sodass die Zelle und all ihre Nachkommen nicht mehr richtig funktionieren. Besteht die Fehlfunktion darin, dass die fehlerhaften Zellen sich unkontrolliert vermehren, entsteht Hautkrebs.

Damit es dazu aber garnicht erst kommt, gibt es in jeder Zelle nützliche Enzyme, die die DNA ständig überprüfen und Schäden reparieren. Allerdings arbeiten solche Enzyme nicht perfekt. Je mehr Schäden also entstehen, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fehler übersehen wird und schwerwiegende Folgen hat.

 

Wie können wir unsere Haut vor UV-Strahlung schützen?

Nicht immer können wir die Sonne meiden oder lange Kleidung tragen (denn das wäre zweifellos der wirksamste Schutz). Deshalb streichen oder sprühen wir Sonnenschutzmittel mit sogenannten UV-Filtern auf unsere Haut, wenn wir uns länger der Sonne aussetzen. UV-Filter sind Stoffe, die UV-Strahlen daran hindern in unsere Haut einzudringen. Dabei kann man gemäss ihrer Arbeitsweise physikalische „Filter“ von chemischen „Filtern“ unterscheiden: 

Physikalische Filter: sind in der Regel kleine, anorganische Partikel, die wie Spiegel an der Hautoberfläche wirken und die eintreffende UV-Strahlung einfach reflektieren (zurückwerfen).

 
Häufig wird dazu Titandioxid, TiO2, verwendet, das auch als das Mineral Rutil oder Lebensmittelfarbstoff E 171 bekannt ist. Dieser steinartige Stoff ist nicht nur ungiftig, sondern zudem als Pulver auffallend weiss, was ihn als „Spiegel“ auszeichnet. Damit wir uns aber damit einstreichen können ohne weiss zu werden (in den frühen Jahren der Sonnencreme war das tatsächlich Gang und Gäbe!), wird das Titandioxid-Pulver so fein zermahlen, dass die einzelnen Partikel nur noch 1 bis 100 Nanometer klein sind (zum Vergleich: ein Atom ist noch etwa 1000 mal kleiner!). Diese TiO2-Nanopartikel sind für uns unsichtbar, eignen sich aber prima um UV-A- und UV-B- Strahlung zu reflektieren. Sonnenschutzmittel mit hohem Lichtschutzfaktor enthalten praktisch immer einen solchen physikalischen Filter.
 

Chemische Filter: sind in der Regel organische Moleküle, die UV-Strahlen absorbieren, d.h. „schlucken“ können.

 
Solche Moleküle werden ganz normal von UV-Strahlen angeregt, können ihre zusätzliche Energie aber durch einen Prozess, der „innere Umwandlung“ genannt wird, ganz schnell wieder loswerden. Während normale Moleküle Energie nur in Form von Strahlung abgeben können (oder kaputtgehen), wird die Zusatz-Energie von angeregten Elektronen bei der inneren Umwandlung einfach in Schwingungen überführt: Das Molekül erzittert und schubst dabei seine Nachbarn an, die so die absorbierte Energie übernehmen (Schwingungen von Molekülen sind letztlich nichts anderes als Wärme).

Die innere Umwandlung ist extrem schnell (sie dauert nur Femto- bzw. Billiardstelsekunden!) – viel schneller als jede ungewollte chemische Reaktion einschliesslich der Entstehung von Radikalen. So können UV-Strahlen, die auf Moleküle eines chemischen Filters treffen, keinen Schaden mehr anrichten.

Die mit Abstand besten chemischen UV-Filter sind übrigens das Hautbräune-Protein Melanin und unsere DNA höchstselbst (was unsere Reparaturenzyme ganz gewaltig entlastet). Diese Beiden schlucken 99,9% aller UV-Treffer unversehrt, während guten synthetischen UV-Filtern in Sonnencremes bei nur bis 81% aller Treffer die innere Umwandlung gelingt.

 

Können diese praktischen Stoffe unserer Gesundheit schaden?

Vielerorts wird darüber spekuliert, dass Nano-Partikel, weil sie so klein sind, auf ungeahnten Wegen in unseren Körper eindringen und ungewollte (schädliche) Wirkungen haben können. Tatsächlich sind Titanoxid-Verbindungen z.B. bei Entwicklern von Knochenprothesen sehr beliebt, gerade weil sie mit Knochenoberflächen und anderem Gewebe reagieren und Bindungen eingehen können (aber das ist eine andere Geschichte…).

Bevor man sich jedoch ausmalt, was Nano-TiO2 in unserem Körper anrichten könnte, bleibt die Frage zu klären, ob es überhaupt da hinein kommt. Und da sagen bis heute vorliegende Studien: Das Nano-TiO2 in Sonnencremes kann unsere Haut nicht durchdringen. Auch dann nicht, wenn die Haut, z.B. durch schon vorhandenen Sonnenbrand, beschädigt ist. Ausserdem sind die als UV-Filter eingesetzten Nanopartikel mit einer speziellen Schicht überzogen, die jene Reaktionen, für die Titanoxide bekannt sind, im Zweifelsfall verhindert.

Weniger einfach verhält es sich mit den chemischen UV-Filtern. Da gibt es so viele verschiedene Bedenken, wie es eingesetzte Stoffe gibt.

Zu den meistkritisierten chemischen Filtern gehört eine Substanz namens Octinoxat oder EHMC (Chemiker nennen den Stoff 4-Methoxyzimtsäure-2-ethylhexylester, was für den ‚Hausgebrauch‘ entschieden zu lang ist). Dieser Stoff beherrscht die innere Umwandlung für einen synthetischen Filter sehr gut. Allerdings verursacht er verbreitet Stirnrunzeln, weil in Studien mit Zellkulturen und Ratten eine hormonaktive Wirkung des Octinoxat beobachtet worden ist.

Das bedeutet, Proteine im Körper der Ratten (wie auch in den kultivierten Zellen), die dafür geschaffen sind mit Hormonen, also Botenstoffen, zu reagieren, verwechseln Octinoxat mit Geschlechtshormonen aus der Gruppe der Estrogene. Die Proteine interpretieren bei der Begegnung mit Octinoxat also eine Botschaft, die das fremde Molekül gar nicht hat, und setzen Stoffwechsel-Vorgänge in Gang, die es eigentlich gar nicht braucht. Folgen davon sind Durcheinander im Hormonhaushalt, nicht angedachtes Wachstum von Geschlechtsorganen und manches mehr. Und was bei Ratten geht, geht bei Menschen leider meistens auch.

Deshalb hat sich das Wissenschaftliche Kommittee der EU für Kosmetik- und Non-Food-Produkte für den Endverbraucher (SCCNFP) seinerzeit mit den Studien zu diesem und ähnlichen UV-Filtern beschäftigt. Und die Kommission hat die Meinung geäussert, dass diese Stoffe wohl hormonaktiv wirken können, aber längst nicht so stark wie andere hormonaktive Stoffe, die z.B. in Nahrungsmitteln (Sojaprodukten) oder der Antibaby-Pille zu finden sind. Ehe wir uns also wegen Octinoxat und Co einen Kopf machen, ist es demnach sinnvoller sich über wichtigere Quellen hormonaktiver Stoffe Gedanken zu machen. Trotzdem wird Octinoxat in Europa nur noch selten in Sonnencremes verwendet.

Wesentlich häufiger findet man dafür die Substanz Octocrylen, die zwar kein besonders guter UV-Filter ist, aber dafür sorgen kann, dass andere Filterstoffe in der Sonnencreme stabil bleiben. Von diesem Stoff heisst es, dass er eine Kontaktallergie auslösen kann, wie es z.B. auch Nickel manchmal tut.

Das bedeutet, der Körper hält das Octocrylen fälschlicherweise für gefährlich und löst eine unnötige Abwehrreaktion aus: Die Haut, die mit dem Stoff in Kontakt kommt, wird rot, fängt an zu jucken und bekommt Pusteln. Bei einer Kontaktallergie sind es allerdings weisse Blutzellen (TH1-Lymphozyten), die sich irren und die Bekämpfung der vermeintlichen Gefahr aufnehmen. Das dauert erheblich länger als die Reaktion abwehrbereiter Antikörper bei der zuweilen gefährlichen direkten Allergie (auch das ist eine andere Geschichte…).

Ein allergischer Schock durch Octocrylen ist daher nicht zu befürchten, wohl aber Hautreizungen, die mit einer „Sonnenallergie“ verwechselt werden können.

Kontaktallergien können übrigens im Prinzip von jedem Fremdstoff ausgelöst werden. So sind auch entsprechende Reaktionen auf EHMC und sogar auf das relativ harmlos genannte Butylmethoxydibenzoylmethan bekannt.

 

Was können wir also tun?

Meiner Meinung nach geht der Nutzen von UV-Filtern und Sonnencreme weit über die möglichen Risiken hinaus. Daher streiche ich mich stets gründlich ein, wenn ich draussen in der Sonne unterwegs bin. In den Bergen ist das übrigens auch im Winter zu empfehlen, weil in der Höhe die schützende Erdatmosphäre dünner ist als auf Meereshöhe und der weisse Schnee als die einfallende Strahlung vom Boden auf uns zurückwirft.

UV-Filter sind aber längst nicht mehr nur in Sonnencreme zu finden, sondern auch in vielen anderen Kosmetik-Produkten, vom Make-up bis zum Lippenstift. Und hier können wir meines Erachtens unnötige Risiken vermeiden, wenn wir darüber nachdenken, wann wir UV-Schutz wirklich benötigen und wann nicht. Im abendlichen Ausgang oder im Büro bzw. im Schulzimmer bekommen wir jedenfalls weder Sonnenbrand noch alte Haut.

Und wenn ihr zu den unglücklichen 10% gehört, die im Zusammenhang mit Sonne und Sonnencreme allergische Reaktionen erleben, ist es meiner Meinung nach sinnvoll den Auslöser genau zu ermitteln und – sollte es sich um einen Inhaltsstoff von Sonnencreme handeln – künftig ein Produkt ohne diesen Stoff zu benutzen.