Die Geschichte von Zahn Einssechs – 10 mal Chemie beim Zahnarzt [Teil 2]

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Chemie beim Zahnarzt

Hallo und auf ein Neues! Ich bin Zahn Einssechs („16“), Kathis erster grosser Backenzahn oben rechts (aus Sicht aller anderen oben links), und ich darf euch heute endlich mein Versprechen einlösen und meine Geschichte fertig erzählen. Die ist nämlich so lang, dass ich die erste Hälfte im Dezember 2015 bei Maike auf Miss Declare geschildert habe.

Dort habe ich erzählt von:

  1. Karies-Vorbeugung mit Fluoriden
  2. Dem Inhalt der „Spritze“ für die lokale Betäubung
  3. Zement als Zahnfüllung
  4. Amalgam-Füllungen
  5. Inlays und Kronen aus Keramik

Dieser Teil meiner Geschichte endet mit einem schicken Keramik-Inlay für mich und einige meiner Kollegen. Diese wunderbare Ausstattung hielt leider nur mehr 5 Jahre. Dann tat es mir gewaltig weh: Eine Wurzelentzündung hatte mich erwischt!

Anlässlich dessen kann ich euch nun im zweiten Teil von diesen weiteren Wundern aus der Zahnarztpraxis erzählen:

  1. Diagnostik mit Vitalitätstest und Röntgenbildern
  2. Desinfizierenden Spüllösungen
  3. Medikamente zur Behandlung einer Wurzelentzündung
  4. Füllmaterial für Wurzelhalsfüllungen und Provisorien
  5. „Kunststoff“-Füllungen aus Komposit-Füllmaterial

Mit Zahnschmerzen gibt es zuweilen ein fieses Problem: Meinen Nachbarn tat meine Wurzelentzündung genauso weh wie mir – mit anderen Worten: Kathi tat praktisch der ganze rechte Oberkiefer weh!  Also ging es zur Zahnärztin – mittlerweile in der Schweiz. Und hier haben sie ein besonders fieses Mittel um unsere Vitalität zu prüfen:

6. Zur Diagnose: Vitalitätstest und Röntgenbild

Die Ärztin drückt mit einem eisigen Stift auf unsere Oberfläche. Wenn das nichts bewirkt, ist unser Nerv definitiv abgestorben. Wenn doch…. Und damit es auch wirklich deutlich zwickt (und damit kein Schmelzwasser durch Kathis Mund läuft), besteht der kalte Stift aus Trockeneis. Das ist Kohlendioxid – im festen Zustand! Kohlendioxid hat nämlich die Angewohnheit bei -78°C zu sublimieren, d.h. vom Feststoff gleich zum Gas zu werden – ohne zu schmelzen. Ein fester Stift aus Trockeneis ist also mindestens -78°C kalt! Und ja, das hat höllisch weh getan. Denn mein Nerv war seiner Zeit lang noch nicht tot! Leider tat es meinem Kollegen Einsvier mindestens genauso weh. Da blieb als letzter Ausweg zur Identifizierung des wahren Übeltäters nur noch eine Röntgenaufnahme.

Erzeugt werden Röntgenstrahlen, indem ein Metall, meist Kupfer, Wolfram oder Molybdän, mit frei fliegenden Elektronen bombardiert wird. Die Elektronen werden durch Anlegen einer hohen elektrischen Spannung an eine Kathodenstrahlröhre erzeugt und fliegen geradewegs gegen das Metall. Wenn sie dort auftreffen und folglich gebremst werden, geben sie Energie ab: Es entstehen Röntgenstrahlen… die übrigens nichts anderes sind als Licht, nur wesentlich energiereicher. Deshalb sieht man Röntgenstrahlen, oder besser -wellen normalerweise nicht, aber sie können Elektronen aus Atomen „sprengen“ und auf diese Weise Moleküle beschädigen. Deswegen gibt es beim Röntgen am Stuhl einen Bleikragen unters Kinn – der schluckt möglicherweise fehlgeleitete Röntgenstrahlen, bevor sie an die empfindlichen Organe im Hals oder tiefer gelangen können.

Brems-Röntgenstrahlen

Erzeugung von Röntgenstrahlen: Schnelle Elektronen (e-), die auf ein Metall-Atom treffen, werden an dessen Kern gestreut und dabei abgebremst. Die Energie, welche die Elektronen dabei verlieren, wird als Röntgenquant (ein Quant ist eine Licht-„Portion“) abgegeben.

Also wird ein kleiner Bilderrahmen ins Gebiss geklemmt, die Röntgenquelle auf die Wange ausgerichtet, und los geht’s. Der Trick bei der Sache: Durch Wasser und die meisten Körpergewebe geht ein kurzer Röntgenimpuls weitgehend ungehindert hindurch. Danach trifft er auf den Röntgenfilm im Rahmen und lässt dort Silbersalze zu elementarem Silber reagieren: Der Film wird dunkel. Wenn allerdings Metalle im Weg sind, schlucken diese einen Teil der Röntgenstrahlen: Je mehr Metallatome und je schwerer diese sind, desto besser (deshalb ist der Schutzkragen aus Blei – dichtgepackte Metallatome mit sehr hoher Atommasse). Zur Erinnerung: Zahnschmelz und Dentin bestehen aus Hydroxylapatit, das Calciumionen enthält – und Calcium ist ein mittelschweres Metall. Das Calcium schluckt Röntgenstrahlen, die so nicht auf den Film treffen können, sodass der nicht dunkel werden kann. Deshalb erscheinen wir Zähne auf dem Röntgenbild hell, ähnlich wie Knochen, die ebenfalls Calcium enthalten, während die Pulpa in unserem Inneren etwas dunkler aussieht.

Eine Wurzelentzündung kann man so nicht direkt erkennen. Aber wenn eine solche Entzündung lang genug wütet, zieht sie über die Wurzelspitze hinweg den Knochen in Mitleidenschaft: Der enthält dann rund um die Wurzelspitze weniger Calcium als normal, sodass dieser Bereich auf dem Röntgenbild dunkler erscheint als der übrige Knochen. Der Zahnarzt spricht dann von „apikaler Parodontitis“. Leider hatte meine Wurzelentzündung dafür noch nicht lang genug gedauert. So konnten Kathi und die Zahnärztin auch auf dem Röntgenbild nicht ausmachen, wer von uns für das Übel im Kiefer verantwortlich war – also wurde uns erst einmal ein Flächenbombardement mit starken Schmerzmitteln verordnet. Und nach rund 24 Stunden unter Tabletten war ich dann der Schmerzen überdrüssig und beschloss, erstmal nicht mehr weh zu tun. Da Kathi keine Lust auf eine weitere schmerzliche Begegnung mit dem Trockeneis hatte, blieb sie der Praxis daraufhin bis auf Weiteres fern.

Nach rund 11 Monaten konnte ich das allerdings nicht länger tolerieren – denn mittlerweile ging es tief in mir wirklich hoch her. Und ich hatte nun lange genug einen guten Teil meiner Kau-Arbeit an meinen Kollegen Zweisechs abgeschoben (erinnert ihr euch? Sein Inlay war weit vor allen übrigen zerschlissen und musste vorzeitig ersetzt werden. Mich lässt der Verdacht nicht los, dass wegen meiner Entzündung übermässig auf seiner Seite getätigte Kau-Arbeit dafür verantwortlich ist.)

Als ich so das zweite Mal starke Schmerzen meldete, ging es wieder in die Praxis – und nun war der Röntgenbefund eindeutig: Eine meiner Wurzelspitzen war von einem dunklen Schatten umgeben. Also flugs eine Spritze gesetzt…und dann musste mein Inlay dran glauben. Denn Frau Doktor brauchte ein grosses Loch, um meine entzündete und ziemlich tote Pulpa aus allen Wurzelhälsen auszuräumen (hier ein Geheimtipp von Kathi: Ohrstöpsel und mp3-Player mit einem spannenden Hörbuch lenken wunderbar von der ganzen Schmirgelarbeit ab!).

7. Desinfizierende Lösungen

Dann musste ordentlich sauber gemacht werden. Was da alles in mich hineingekippt wurde! Wasserstoffperoxid- (H2O2 in Wasser) und Natriumhypochloritlösung (NaOCl in Wasser) sind sehr reaktive Oxidationsmittel, die Bakterien und vielen anderen Zellen schwer zu schaffen machen. Das Geheimnis beider Stoffe ist ihre Fähigkeit einzelne Sauerstoff-Atome frei zu setzen:


Disproportionierung von Wasserstoffperoxid: Die römischen Ziffern bezeichnen die Oxidationsstufen der Sauerstoffatome. Beim Zerfall von Wasserstoffperoxid gibt eines der beiden Sauerstoff-Atome der Oxidationsstufe -I ein Elektron ab – es wird zu einem „naszierenden“ Sauerstoff-Atom der Oxidationsstufe 0 oxidiert. Das andere Sauerstoffatom nimm das Elektron auf: Es wird auf Oxidationsstufe -II reduziert.

Im besten Fall für alles Leben finden zwei solche Sauerstoffatome, die man als naszierenden (entstehenden) Sauerstoff bezeichnet, sogleich zu einem Sauerstoffmolekül zusammen:

Häufig genug treffen naszierende Sauerstoffatome jedoch auf andere Moleküle ihrer Umgebung, ehe sie einander finden, und oxidieren diese. Wenn diese anderen Moleküle Bestandteile von (Bakterien-)Zellen sind, stört die Oxidation ihre Funktion empfindlich – bis dahin, dass die Zellen eingehen.

Nichts desto trotz besteht dabei kein Grund zur Sorge um mein Dentin und das Gewebe um meine Wurzelspitze. Denn menschliche (und andere aerobe – sauerstoffatmende) Zellen haben effektive Vorrichtungen, die sie gegen naszierenden Sauerstoff und ähnlich reaktive Teilchen (gerne als reaktive Sauerstoff-Spezies, „ROS“ zusammengefasst) verteidigen. Eine dieser Schutzvorrichtungen ist das Enzym Katalase, welches die zügige Zersetzung von Wasserstoffperoxid katalysiert, ohne naszierendem Sauerstoff die Gelegenheit zu geben sein Unwesen zu treiben. Unter anderem dank der Katalase dringt Wasserstoffperoxid in der Konzentration, die Frau Doktor benutzt, nicht nennenswert in Kathis Gewebe ein.

Ein weiteres Desinfektionsmittel, das bei der Wurzelhals-Reinigung Verwendung finden kann, ist Chlorhexidin („CHX“) bzw. Chlorhexidindigluconat-Lösung. Das Chlorhexidin-Molekül greift die Zellmembran, also die Aussenhülle von Bakterien an und kann in ausreichend hoher Konzentration sogar Proteine in ihrem Innern zerstören. Damit hemmt es das Wachstum der Bakterien massgeblich, weshalb Kathi uns dereinst vor dem Eingriff zur Ausstattung mit den Inlays gut eine Woche lang regelmässig mit Chlorhexidin gespült hat, um dem dem Zahnarzt eine wirklich saubere Arbeitsumgebung zu schaffen.

8. Medikamente

Aber zurück zu meiner Wurzel. Da es in mir so hoch hergegangen war (gemäss der Äusserungen von Frau Doktor muss ich schon recht gestunken haben…), gab es nach der Grundreinigung  eine Portion Antibiotika und Cortison in meine Wurzelhälse. Erstere hindern die Bakterien an der Vermehrung und am Weiterleben, während Zweiteres der Eindämmung der Entzündungsreaktion in meiner Umgebung diente. Bei weniger schlimmen Fällen genügt auch eine Einlage mit Calciumhydroxidlösung. Die reagiert basisch, und Bakterien mögen basische Umgebung überhaupt nicht gern.

Das Loch in meiner Krone wurde dann mit einem provisorischen Stopfen verschlossen, und zur Sicherheit gab Frau Doktor uns noch eine Packung mit den hoch wirksamen Schmerztabletten mit. In der Schweiz verwenden sie Ponstan, ein Mittel ähnlich dem bekannten Paracetamol, nur mit stärkerer Wirkung. In Deutschland gibt es stattdessen meist Ibuprofen in höherer Dosis. Der chemische Reporter hat übrigens erst kürzlich über diese Schmerzmittel berichtet.

Schmerzmittel

Gängige Schmerzmittel: Ähnlich aufgebaute Moleküle wirken auf ähnliche Weise. Alle drei Substanzen hemmen die Bildung von Prostaglandinen – Schmerz-Botenstoffen – ohne welche Schmerzsignale nicht ans Gehirn weitergeleitet werden können. Die Ähnlichkeit zwischen Paracetamol und Ibuprofen ist auffällig. Die etwas anders aufgebaute Mefenaminsäure ist noch wirksamer als die ersten beiden, in Deutschland jedoch nicht zugelassen.

Das eine wie das andere wirkt nicht nur schmerzstillend, sondern auch entzündungshemmend, sodass sie bestens für die Beruhigung einer entzündeten Zahnwurzel geeignet sind. Aber Frau Doktor hatte ihre Sache so gut gemacht, dass Kathi die Tabletten nicht brauchte. Ebenso waren zusätzliche Antibiotika-Tabletten (zum Beispiel Clindamycin, das besonders gut in (Kiefer-)Knochengewebe eindringt), die bei einer besonders hartnäckiger Entzündung im Kiefer zuweilen verschrieben werden, kein Thema.

9. Guttapercha für Provisorien und Wurzelhalsfüllungen

Nun habe ich schon wieder provisorische Füllungen und Verschlüsse erwähnt, die sich ohne grossen Aufwand sauber aus  einer Höhlung im Zahn entfernen lassen. Da ist es nun endlich an der Zeit, ihr Geheimnis zu lüften:

Solche provisorischen Verschlüsse bestehen aus Guttapercha, dem eingetrockneten Milchsaft des Guttaperchabaumes (Palaquium gutta), also einer dem Naturkautschuk eng verwandten Substanz. Aus Sicht der Chemiker handelt es sich dabei um ein Polyisopren, genauer um Poly-trans-1,4-Isopren. In diesem Polymer sind Isopren-Moleküle in abwechselnder Orientierung miteinander verknüpft (bei Kautschuk handelt es sich im Vergleich dazu um Poly-cis-1,4-Isopren, das analoge Polymer aus stets in gleicher Weise verknüpftem Isopren.

800px-Guttapercha

Guttapercha: Ein Isopren-Glied (in der eckigen Klammer) enthält eine Kette aus 4 Kohlenstoff-Atomen. Das erste und vierte C-Atom sind mit dem jeweils nächsten Glied (oder einer Endgruppe) verbunden. Dabei liegen die Verknüpfungspunkte einander aus Sicht der Doppelbindung stets gegenüber, sodass die Polymerkette im Zickzack verläuft und die H3C-Gruppen wechselseitig angeordnet sind. Man spricht von trans-1,4-verknüpftem (oder nach neuer Bezeichnung E-1,4-verknüpftem) Polyisopren. Beim Kautschuk, dem cis- oder Z-1,4-verknüpften Polyisopren, liegen dagegen alle Verknüpfungspunkte auf der gleichen Seite der Doppelbindung.

Dieser „natürliche“ Kunststoff ist nicht nur hart genug, um für einige Wochen als Zahnfüllung her zu halten, sondern auch flexibel genug, um eine Höhlung dicht zu verschliessen und sich sauber wieder daraus entfernen zulassen.

Und überdies gehört Guttapercha zu den Thermoplasten, d.h. zu jenen Polymeren, die ab einer bestimmten Temperatur (bei der Guttapercha ab etwa 50°C) formbar werden. Das macht sie zu einem wunderbaren Material, um enge Wurzelkanäle mit oft haarfeinen Verästelungen zu füllen: In den ausgeräumten, sauberen Wurzelkanal wird ein Stück feste Guttapercha, zum Beispiel in Form eines feinen Stifts, eingeführt und auf lauschige 50°C erwärmt, sodass das Material bis in die feinen Seitenkanälchen hinein zerfliessen kann. Sobald die Masse abkühlt, wird sie wieder so fest wie zuvor.

Nachdem also die Medikamente in meinen Wurzelkanälen ein paar Tage hatten wirken dürfen, ging es also erneut zu Frau Doktor in die Praxis. Dort kam mein Guttapercha-Verschluss weg, damit ich nun von der Wurzelspitze an mit Guttapercha ausgestopft werden konnte.

Die dazu verwendete Zahnarzt-Guttapercha ist für die perfekte Konsistenz mit Zinkoxid (ZnO2) und Wachs als Füllstoffen, sowie mit Bariumsulfat (BaSO4) versetzt. Barium ist ein Schwermetall und damit auf Röntgenbildern wunderbar strahlend weiss zu sehen, sodass es Frau Doktor ermöglicht, sich auf einer Röntgenaufnahme vom perfekten Sitz der Wurzelfüllung zu überzeugen. Und dabei kann das Barium Kathi kaum gefährlich werden, denn Bariumsulfat ist das wohl unlöslichste Salz, welches sie bislang kennenlernen durfte. Das Barium in der Zahnarzt-Guttapercha kann also kaum ungebunden aus der Füllung hinausgelangen.

Der neueste Schrei in Sachen Guttapercha-Wurzelfüllung ist die Mischung der Guttapercha mit Amoxicillin-besetzten Nanodiamanten. Amoxicillin ist ein Breitband-Antibiotikum, das gegen zahlreiche verschiedene Bakterien wirkt, aber nur schlecht in Wasser (und damit in den meisten Geweben) löslich ist. Da schaffen die Nanodiamanten Abhilfe. Nur 4 bis 6 Nanometer (Milliardstel Meter) – das entspricht einem Durchmesser von etwa 30 bis 40 Kohlenstoff-Atomen! – sind diese Winzlinge gross. Dafür ist ihre gemeinsame Oberfläche um ein Vielfaches grösser als die eines grösseren Diamanten aus derselben Anzahl Kohlenstoff-Atome, was viel Platz zum Binden von Amoxicillin bedeutet. Auf diese Weise vorverteilt kann sich das Antibiotikum leichter lösen und im Wurzelkanal verbliebenen oder neu hineingelangten Bakterien rasch den Garaus machen.

Nanodiamanten

Nanodiamanten-Guttapercha (NDGP): Bei der Herstellung des Guttapercha-Polymers werden Nanodiamanten, die mit Amoxicillin (AMC) versetzt sind, darin eingebunden (A). Verbleiben oder geraten nach der Wurzelfüllung Bakterien (z.B. Staphylokokkus Aureus) in den Wurzelkanal, ist das Antibiotikum AMC leicht verfügbar und tötet die Keime ab (B). Aus: Lee. D. et al. Nanodiamond–Gutta Percha Composite Biomaterials for Root Canal Therapy. ACS Nano, 2015, 9 (11), pp 11490–11501

Wer die faszinierende Welt der Nano-Teilchen näher ergründen möchte, findet übrigens in Maikes Experimentierkasten „Nanotechnologie“ wertvolle Hilfe.

Aber zurück zu meiner Wurzel – oder besser meiner Krone, die nun, nachdem alle Wurzelkanäle mit Guttapercha versorgt waren, eines endgültigen Verschlusses bedurfte. Und dieser Verschluss besteht, wie heute die meisten dauerhaften Zahnfüllungen, aus „Kunststoff“, also einem Komposit, ananlog zu jenem Komposit-Klebstoff, der beim Einbau von Kronen und Inlays Verwendung findet.

10. Komposit-Füllungen

Der „Kunststoff“, aus dem die heute verbreiteten zahnfarbenen Füllungen bestehen, ist ein Polymer aus verschiedenen Varianten der Dimethacrylsäure (auch DMA für „Dimethacrylat“). Auch der „Klebstoff“ zur Befestigung von Inlays in Zähnen besteht aus derartigen (Poly-)Acrylsäuren. Jede DMA-Variante trägt dabei ihren eigenen Anteil zu den genau auf die Ansprüche an eine Zahnfüllung abgestimmten Eigenschaften dieses gemischten bzw. Copolymers bei. Dazu gehören beispielsweise eine passende Fliessfähigkeit der unverarbeiteten Füllmasse, aber auch eine minimale Schrumpfung der Masse im Zuge ihrer Verarbeitung.

Das DMA-Gemisch wird nämlich vor der Polymerisation, also der Reaktion zur Verbindung der Monomere (Einzelmoleküle) zum eigentlichen Polymer, in den den Zahn gefüllt. Dort werden sie mit der zur Reaktion nötigen Energie in Form von Licht ausgestattet und reagieren zu dem gewünschten festen Kunststoff. Dabei schrumpft das Material unweigerlich – reine Poly-DMA verlieren ca. 10 Vol% gegenüber ihren Monomeren – da die Bestandteile der Polymer-Ketten im Zuge der Reaktion enger zusammen rücken.

Zudem ist kein Kunststoff hart und beständig genug, um den enormen Belastungen von ständiger Beiss- und Kauarbeit stand zu halten. Daher werden der DMA-Masse harte und nicht schrumpfende Füllstoff-Partikel beigemengt: Oxide – vor allem Quarz (SiO2) – und Silikate – mit anderen Worten: Sand. Herkömmliche „Kunststoff“-Füllmassen enthalten 55-75 Vol% dieses „Sandes“ im Mikro- bis Nano-Massstab. Zum Komposit-, also Verbund-Werkstoff werden sie jedoch erst dadurch, dass bei der Entstehung des Polymers zwischen den DMA-Ketten und den „Sandkörnern“ Elektronenpaarbindungen geknüpft werden. Dazu werden die „Sandkörner“ analog zu den Inlay-Klebeflächen mit Silan-artigen Molekülen beschichtet, von welchen ich im ersten Teil meiner Geschichte schon erzählt habe. Die Silane werden bei der Entstehung des Polymers ebenso in die Ketten mit eingebaut wie Bestandteile der Schmelz- und Dentinoberfläche, sodass sowohl der Sand der Füllung als auch die Füllung im Zahn fest haftet.

Nachdem mein Inneres also mit Guttapercha gut gefüllt war, wurde mein Loch mit einer solchen Komposit-Masse verschlossen. Und damit diese genau dann aushärtet, wenn Frau Doktor mit dem Einfüllen fertig ist, enthält die Mischung lichtempfindliche Substanzen, zum Beispiel Campherchinon und eine stickstoffhaltige Variante (für Chemiker: ein tertiäres Amin) der Methacrylsäure. Wenn man diese mit blauem, also kurzwelligem sichtbarem Licht bestrahlt, bilden sie Radikale, also Molekülbruchstücke, die mindestens ein ungepaartes Elektron enthalten.

Solche freien Radikale sind äusserst reaktiv (radikal eben), denn jedes Atom bevorzugt gepaarte Elektronen deutlich gegenüber ungepaarten. Indem die Radikale mit den Doppelbindungen der DMA-Monomere in ihrer direkten Umgebung reagieren, starten sie eine Kettenreaktion (radikalische Polymerisation), im Zuge derer die Monomere zu langen Ketten verknüpft werden. Sobald keine Monomere mehr zum Anknüpfen auffindbar sind, finden übrige Radikale zu herkömmlichen Molekülen zusammen (Chemiker sprechen von Abbruch-Reaktionen).

RadikalischeKettenpolymerisation_Wachstum

Radikalische Polymerisation: Ein Radikal kann mit der in Methacrylsäure enthaltenen Doppelbindung reagieren. Dabei ergänzt ein Elektron der zweiten Bindung das Elektron des Radikals zu einer neuen Bindung, während das zweite Elektron einsam übrig bleibt (links). Das so entstehende Radikal-Ende der wachsenden Kette (Mitte) kann mit dem nächsten Methacrylsäure-Molekül reagieren und die Kette so um ein weiteres Glied verlängern. Wenn schliesslich zwei Radikal-Kettenenden (rechts) aufeinander treffen, verbinden sich beide zu einem „herkömmlichen“, weniger reaktiven Ketten-Molekül.

Frau Doktor hatte also jeweils gerade so viel Komposit-Material in mein Loch geschichtet, dass das Licht ganz hindurch dringen konnte, ehe die Stuhlassistentin Kathi dann die blaue Lampe in den Mund geschoben hatte. Nach ein paar Sekunden des Wartens verkündete ein leises „Pieps“, dass die nötige Zeit für die Kettenreaktion um war. Dann kam die Lampe wieder heraus und die nächste Schicht Komposit-Masse in mein Loch, welche in der nächsten Polymerisations-Runde auch mit der darunterliegenden Schicht reagiert hat. Eine ganze Reihe Piepse und etwas Polieren später sah ich damit schon fast wieder aus wie neu!

Damit bin ich jetzt also streng genommen ein toter Zahn mit einem Herz aus Guttapercha und einem Gesicht aus Keramik und Komposit-Kunststoff. Doch so grossartig all diese Werkstoffe auch sind – gesunde Zahnsubstanz können sie niemals vollständig ersetzen. So kann mein Guttapercha-Innerstes beispielsweise kein Dentin nachwachsen lassen. Ich bin also vollkommen auf die Substanz angewiesen, aus der ich jetzt noch bestehe. Und die wird hoffentlich noch lange Jahre halten.

Wenn ihr also das nächste Mal beim Zahnarzt seid, freut euch, wenn er nichts zum Bearbeiten findet. Und falls doch, lauscht einmal seinen (oder ihren) Anweisungen an die Stuhlassistentin (oder den Assistenten). Vielleicht erkennt ihr ja den ein oder anderen spannenden Stoff aus meiner Geschichte wieder.

Euer Kathis Zahn Einssechs

Literatur: R.Marxkors/H.Meiners (2005): Taschenbuch der zahnärztlichen Werkstoffkunde. Deutscher Zahnärzte Verlag DÄV GmbH, Köln.

Und welchen Stoffen seid ihr schon in der Zahnarzt-Praxis begegnet?

9 replies
  1. Shila
    Shila says:

    ich sitze hier und weiss gar nicht, was ich schreiben soll…

    wau!

    Ich hoffe inständig, dass ich an diesen beeindruckenden Post denken werde, wenn ich das nächste Mal beim Zahnarzt sitze.

    Shila

    Antworten
    • Kathi Keinstein
      Kathi Keinstein says:

      Ich wünsche dir, dass du beim Zahnarzt nicht all zu viel Zeit haben wirst, daran zu denken…denn das ist letztlich immer noch am angenehmsten :).

      Antworten
    • Kathi Keinstein
      Kathi Keinstein says:

      Meine eigene Zahnarztphobie hat dereinst bei meiner ersten Wurzelbehandlung im Unterkiefer (aufgrund einer verschleppten Karies) einen entscheidenden Dämpfer erhalten: Bis dahin hätte ich nie geglaubt, dass eine Spritze solch eine Erlösung sein kann ;). Trotzdem kann ich das Verschleppen nicht zur Nachahmung empfehlen…das tut einfach zu weh.

      Antworten
  2. Ria
    Ria says:

    Das ist wirklich ein interessanter Beitrag.

    Ich hab ne mega Zahnarztphobie und bin froh, wenn ich einen Besuch so lange wie möglich rausschieben kann.

    Antworten
  3. Lis
    Lis says:

    Wirklich gut erklärt, als ZFA muss man so was ja auch wissen 😀 Auch wenn Wurzelbehandlungen teilweise echt furchtbar sind, wenn man assistieren muss, weil man oftmals nur daneben sitzt und sich denkt „Wann ist der mit der Nadel mal tief genug?!“ 😀

    Liebe Grüße

    Antworten
    • Kathi Keinstein
      Kathi Keinstein says:

      Vielen Dank für deine Bestätigung seitens einer Fachfrau :).

      Ich bin bei der Vorbereitung dieses Posts auch auf ein Video zur Wurzelbehandlung gestossen (in dem der Schwerpunkt aber auf der Einbringung der Guttapercha-Stifte in die Wurzelhälse lag)…so kann ich wohl ansatzweise nachempfinden, was auch meinen „Zuschauerinnen“ damals durch den Kopf gegangen sein mag (zumal die in „meiner“ Praxis häufig Azubis sind)…

      Antworten
  4. finn
    finn says:

    Dankbar für die ausführliche Erörterung der Zahnfüllungen auf der chemischen Ebene! Habe also verstanden, dass die Monomeren im Vergleich zu den Polymeren enger zusammen rücken. Warum sind die dann nicht besser für die Zahnfüllungen? Sind natürliche Füllungsmaterialien nicht möglich? Unter Karies und Parodontitis leiden doch fast alle.

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  5. Elke
    Elke says:

    Der gesundheitliche Aspekt dieser vielen neuen Chemie in Mund/Kiefer ist leider nicht so gut … Und das wird immer schlimmer.

    Antworten

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